Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

Gott, „der dem Vieh sein Futter giebt, wie es in den Psalmen und im 
Hiob heißt, den jungen Raben, die ihn anrufen“. Mit der Natur reimt 
sich daher wohl die vernünftige Freiheit, die Selbstständigkeit und Selbst— 
thätigkeit der Menschen, der individuellen Wesen uͤberhaupt, aber nicht 
mit einem allmächtigen, Alles wissentlich und absichtlich vorausbestim— 
menden Golte. All die zahllosen herzverderbenden und kopfverwirrenden 
Widersprüche, Schwierigkeiten und Sophismen, welche in der Theologie 
die mit ihrem Gotte als dem allein oder hauptsächlich thätigen Wesen nicht 
zusammenvereinbare Selbstthätigkeit und Selbstwirksamkeit der Geschöpfe, 
der Creaturen verursacht, verschwinden daher oder werden doch wenig— 
stens aufloösbar, wenn man an die Stelle der Gottheit die Natur setzt. 
Wie die Theisten das moralische Ueble, das Böse dem Menschen 
Schuld geben, nur das Gute von Gott ableiten, so haben sie auch das 
physische Uebel, das Uebel in der Natur, theils direct, theils indirect, 
theils ausdrücklich, theils stillschweigend der Materie oder der unver— 
meidlichen Nothwendigkeit der Natur Schuld gegeben. Wenn dieses 
Uebel nicht wäre, so wäre auch nicht dieses Gute, sagen sie, wenn der 
Mensch nicht hungerte, so hätte er auch keinen Genuß vom und keinen 
Trieb zum Essen, wenn er kein Bein brechen könnte, so hätte er auch 
keine Knochen, er könnte folglich nicht gehen; wenn er keine Schmerzen 
empfände bei einer Verwundung, so hätte er keinen Antrieb sich zu 
schützen; darum seien die oberflächlichen Wunden viel schmerzhafter, als 
die tiefgehenden. Es ist daher eine Thorheit, sagen sie, wenn die Athei⸗ 
sten die Uebel, Leiden, Schmerzen des Lebens als Beweise gegen einen 
guütigen, weisen, allmächtigen Schöpfer anführen. Es ist allerdings 
auch ganz richtig, daß, wenn dieses oder jenes Uebel nicht wäre, auch 
nicht dieses oder jenes Gut sein könnte; aber diese Nothwendigkeit gilt 
nur fuͤr die Natur, nicht fuͤr einen Gott. So gut Gott ein Wesen ist, 
in dem der Theist sich eine Seligkeit denkt, ohne Unseligkeit, eine Voll⸗ 
kommenheit ohne Unvollkommenheit, so gut, so nothwendig knüpft 
sich auch an einen Gott die Vorstellung, daß er Gutes ohne Uebles, 
212
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.