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ihres Glaubens wegstreichen, ihren Glauben in der Wirklichkeit, in der
Praxis verläugnen; denn nur dieser Inconsequenz, diesem practischen
Unglauben, diesem instinctartigen Atheismus und Egoismus verdanken
wir alle Fortschritte, alle Erfindungen, durch die sich die Christen von
den Muhamedanern, die Abendländer überhaupt von den Morgenländern
auszeichnen. Wer sich auf die Allmacht Gottes verläßt, wer glaubt, daß
Alles, was geschieht und ist, durch Gottes Willen geschieht und ist, der
wird nimmermehr auf Mittel sinnen, den Uebeln der Welt abzuhelfen,
weder den natürlichen Uebeln, so weit diese aufhebbar sind, denn wider
den Tod wird kein Arzneimittel gefunden werden, noch den Uebeln der
bürgerlichen Welt. „Jedem, sagt Calvin in der schon mehrmals ange—
führten Schrift, wird von der Gottheit seine Lage und sein Stand an⸗
gewiesen. Salomon ermahnt daher mit dem Spruche: „„Loos wird
geworfen in den Schoos, aber es fället wie der Herr will,““ die Armen
zur Geduld, weil diejenigen, welche mit ihrem Loose nicht zufrieden
sind, eine ihnen von Gott aufgelegte Last abzuschütteln suchen. So ta⸗
delt auch ein anderer Prophet, der Psalmist die Gottlosen, welche der
menschlichen Geschicklichkeit oder dem Glücke es zuschreiben, daß einige
zu Ehrenstellen kommen, die andern in Niedrigkeit verbleiben.“ Dies
ist eine nothwendige Folge von dem Gottesglauben, von dem Glauben
an die Vorsehung, wo dieser Glaube nicht ein blos theoretischer, thatloser,
ungläubiger, sondern ein wahrer, practischer Glaube ist. Einige Kirchen⸗
väter hielten es sogar für eine gottlose Kritik der Werke Gottes, sich den
Bart abscheeren zu lassen. Ganz richtig! Der Bart verdankt dem Willen
und der Absicht Gottes, die sich ja auch auf das Einzelnste erstrecken, seine
Existenz; wenn ich mir den Bart abscheeren lasse, so drücke ich damit ein
Mißfallen aus; ich tadle indirect den Urheber des Bartes; ich empöre mich
gegen seinen Willen; denn Gott sagt: der Bart sei! indem er ihn wach⸗
sen läßt, aber ich sage: er sei nicht! indem ich mir ihn abscheeren lasse.
Alles sein lassen, wie es ist, das ist die nothwendige Folge von dem
Glauben, daß ein Gott die Welt regiert, Alles durch Gottes Willen
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