Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

2 
der hat ihn also. Denkest du er zürne mit dir und wolle dein nicht, so 
widerfähret dir also. Kannst du aber sagen: Ich weiß, daß er will 
mein gnädiger Vater sein u. s. w., so hast du es auch also.“ „Wie wir 
ihn fühlen, sagt er in seinen Predigten über das erste Buch Mose, so 
ist er uns. Denkest du, er sey zornig und ungnädig, so ist er un— 
gnädig.“ „Wenn du ihn, sagt er in seiner Auslegung der andern 
Epistel St. Petri, für einen Gott hältest, so thut er auch bei 
dir für einen Gott.“ Das heißt: Gott ist so, wie ich ihn glaube, 
wie ich ihn mir einbilde; oder: die Beschaffenheit Gottes haͤngt von 
der Beschaffenheit meiner Einbildungskraft ab. Was aber von der Ei— 
genschaft, gilt auch von dem Dasein Gottes. G laube ich, daß ein 
Gott ist, so ist ein Gott, scl. für mich; glaube ich nicht, daß er ist, 
so ist auch keiner, scl. für mich. Kurz ein Gott ist ein eingebilde— 
tes Wesen, ein Wesen der Phantasie; und weil die Phantasie die we⸗ 
sentliche Form oder das Organ der Poesie ist, so kann man auch sagen: 
die Religion ist Poesie, ein Gott ist ein poetisches Wesen. 
Wenn man die Religion als Poesie auffaßt und bezeichnet, so liegt 
die Folgerung nahe, daß, wer die Religion aufhebt, d. h. in ihre Grund⸗ 
bestandtheile auflöst, auch die Poesie, die Kunst überhaupt aufhebt. In 
der That hat man diese Folgerung aus meinen Aufklärungen über das 
Wesen der Religion gezogen, und daher die Hände über den Kopf zu— 
sammengeschlagen vor Entsetzen über die gräßliche Verödung, die in das 
Menschenleben durch diese Lehre gebracht würde, da sie allen poetischen 
Schwung der Menschheit raube, mit der Religion auch die Poesie zer— 
störe. Aber ich wäre der Tollheit, dem Wahnsinn verfallen, wenn ich 
die Religion in dem Sinne aufheben wollte, als meine Gegner mir 
Schuld geben. Ich hebe nicht die Religion auf, nicht die subjectiven, 
d. i. menschlichen Elemente und Gründe der Religion, nicht Gefühl und 
Phantasie, nicht den Drang, sein eigenes Inneres zu vergegenständlichen 
und zu personificiren, was ja schon in der Natur der Sprache und des 
Affects liegt, nicht das Bedürfniß, die Natur, aber auf eine ihrem 
232
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.