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sie hielten und halten noch zum Theil die religiösen Bilder für wirkliche
Wesen, für die Gegenstände selbst, die diese Bilder vorstellen. Die ge—
lehrten Christen unterschieden wohl das Bild von dem Gegenstande,
sagten, daß sie nur den Gegenstand vermittelst des Bildes, nicht das Bild
selbst verehrten und anbeteten; aber das Volk ließ diesen subtilen Unter—
schied fallen. In der griechischen Kirche kämpften bekanntlich die Chri—
sten sogar zwei Jahrhunderte lang mit einander für und wider die Bilder—
verehrung, bis endlich der Bilderdienst siegte. Unter den Christen zeichnen
sich besonders unsere lieben östlichen Nachbarn, die Russen, als Bilder⸗
verehrer aus. „Jeder Russe hat .. . . . gewöhnlich einen Abdruck des
h. Nikolas oder eines andern Heiligen in Kupfer in seiner Tasche.
Ueberall trägt er ihn bei sich. Zuweilen sieht man einen Soldaten oder
Bauern seinen kupfernen Gott aus der Tasche ziehen, darauf spucken,
ihn mit der Hand reiben und reinigen, ihn vor sich hinsetzen, sich vor
ihm unter tausend Bekreuzungen niederwerfen, Seufzer ausstoßen und
vierzigmal ausrufen: Gospodi Pomilor, d. i. Gott erbarm dich
meiner. Dann steckt er seinen Gott wieder in die Tasche und geht
weiter.“ Jeder Russe hat ferner in seinem Hause mehrere Heiligenbil—
BU. der, vor denen sie Licht anzünden. „Wenn ein Mann bei seiner Frau
v schlafen will, so bedeckt er die Heiligenbilder vorher mit einem Tuche.
m Die russischen Freudenmädchen sind gleichfalls sehr ehrerbietig gegen die
un an Heiligen. Wenn sie Besuche haben und sich ihren Freuden überlassen
n wollen, so verhüllen sie vor allen Dingen ihre Bilder und löschen die
* vor denselben brennenden Kerzen aus.“ (Stäulin, Magazin für Reli—
un gionsgeschichte) Wir sehen, nebenbei bemerkt, an diesem Beispiel, wie
Aul hiꝛt leicht sich der Mensch in der Religion, mit deren Aufhebung man ge—
ue hedn, wöhnlich die Moral, als hätte diese keinen selbstständigen Grund, auf—
un ul gehoben wähnt, mit der Moral abfindet. Er braucht nur das Bild
seines Gottes zu verhaängen; oder er braucht nur, wenn er es nicht so
plump machen will, wie ein russisches Freudenmädchen oder ein russischer
Bauer, über die göttliche Strafgerechtigkeit den Mantel der christlichen
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