Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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dinge vermenschlicht und vergöttert. So wie der Mensch ein körper— 
liches Einzelwesen ist, so sind auch die Götter des Polytheisten 
körperliche, leibhafte Einzelwesen; er hat daher unzählig viele Götter; 
er hat so viele Götter, als er unterschiedene Wesensgattungen in der 
Natur bemerkt. Ja! er geht noch weiter: er vergöttert selbst die ein— 
zelnen Artunterschiede. Freilich knüpft sich auch diese Vergötterung, 
dieser religiöse Scholasticismus hauptsächlich an die Dinge an, die für 
den Egoismus des Menschen die größte Wichtigkeit haben; denn eben 
an solchen Gegenständen bemerkt der Mensch Alles mit Aufmerksamkeit, 
fixirt er mit seinem Auge die kleinsten Unterschiede und vergöttert sie dann 
vermittelst seiner Phantasie. Ein köstliches Beispiel hiervon liefern uns 
die Römer. Diese hatten z. B. für jede Stufe der Entwicklung, welche 
die den Menschen nützlichsten Gewächse, wie die Getreidearten, von An— 
fang bis zum Ende durchlaufen, für die Stufe des Keimens, für die 
des Schossens, für die, wo der Halm den ersten Knoten bildet, kurz für 
jeden in die Augen fallenden Abschnitt und Unterschied im Wachsthum 
des Getreides lauter besondere Gottheiten. So hatten ste auch für die 
Kinder eine Menge Götter eine Göttin: Natio für die Geburt, eine 
Göttin: Educa für das Essen, eine Göttin: Potina für das Trinken 
der Kinder, einen Gott: Vagitanus für die schreienden oder weinenden, 
eine Göttin: Cunina für die in der Wiege liegenden, eine Göttin: 
Rumia für die säugenden Kinder. 
Der Monotheist geht dagegen nicht von dem wirklichen, sinnlichen 
Menschen, der ein lebendiges Einzelwesen ist, aus, sondern er geht von 
Innen nach Außen, er geht vom Geiste des Menschen aus, der durch 
das Wort sich äußert, durch das bloße Wort Wirkungen hervorbringt, 
dessen bloßes Wort Macht hat zu schaffen. Der Mensch, der über An⸗ 
deren steht, als ihr Herr, dem sie gehorchen, gebietet ja über Millionen 
durch sein bloßes Wort; er braucht nur zu befehlen, so geschieht durch 
andere ihm unterworfene Diener sein Wille. Der durch das bloße Wort 
wirkende und schaffende Geist und Wille des Menschen, namentlich des
	        
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