Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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steht nur darin, daß der Rationalist seine Einbildungskraft durch die 
Abstractionskraft bestimmt, beherrscht, der Altgläubige aber seine Ab— 
stractionskraft oder sein Begriffsvermögen durch die Einbildungskraft 
überbietet oder beherrscht. Oder mit anderen Worten: der Rationalist 
bestimmt oder besser beschränkt durch die Vernunft — die Vernunft ist 
es ja, die wir der gewöhnlichen Sprach- und Denkweise nach als das 
Vermögen, abgezogene Begriffe zu bilden, bezeichnen und fassen — den 
Glauben; der Rechtgläubige beherrscht die Vernunft durch den Glau— 
ben. Der Gott der Altgläubigen kann Alles und thut wirklich, 
was der Vernunft widerspricht; er kann Alles, was die unumschränkte 
Einbildungskraft des Glaubens als möglich vorstellt, — und dieser ist 
nichts unmöglich —, d. h. der altgläubige Gott verwirklicht, was der 
Gläubige sich einbildet; er ist nur die verwirklichte, vergegenständlichte 
unbeschränkte Einbildungskraft des vollgläubigen Menschen. Der 
rationalistische Gott hingegen kann und thut nichts, was der Ver— 
nunft des Rationalisten oder vielmehr der durch die rationalistische 
Vernunft beschränkten Glaubens- und Einbildungskraft wider— 
spricht. Aber gleichwohl ist der Rationalismus eben so gut Bil— 
der- und Götzendienst — wenn Bilderdienst gleich Götzendienst —; 
denn eben so gut als der eigentliche sinnliche Götzendiener, welcher ein 
sinnliches Bild für Gott, für ein wirkliches Wesen hält, hält auch der 
Rationalist seinen Gott, das Geschöpf seines Glaubens, seiner Einbil— 
dungskraft und Vernunft, für ein wirkliches, außer dem Menschen 
existirendes Wesen. Er ist wüthend und fällt in den Fanatismus des 
alten Glaubens zurück, wenn man ihm das Dasein eines, oder was 
eins ist, se ine s Gottes, — denn jeder hält nur seinen Gott für Gott 
— abstreitet, wenn man ihm nachweisen will, daß sein Gott nur ein 
subjectives, d. i. nur eingebildetes, vorgestelltes, gedachtes Wesen ist, 
daß sein Gott nur ein Bild seines eigenen, rationalistischen, die Einbil— 
dungskraft durch die Abstractionskraft, den Glauben durch das Denk— 
vermögen beschränkenden Wesens ist. Doch nun genug einstweilen von 
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