Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

werden freilich die Einzelnen, die durch Geburt oder Einwanderung 
Glieder desselben werden, durch den Staat bestimmt; aber was ist der 
Staat im Verhältniß zu den Einzelnen, die in ihn kommen, anders, als 
die Summe und Verbindung der bereits existirenden, diesen Staat bil— 
denden Menschen, die kraft der ihnen zu Gebote stehenden Mittel, kraft 
der von ihnen geschaffenen Einrichtungen die Zu- und Nachkommenden 
nach ihrem Geist und Willen bestimmen? Wo daher die Menschen poli— 
tisch frei, religioͤs unfrei sind, da ist auch der Staat kein vollkommener 
oder noch nicht vollendeter. Was aber den zweiten Punkt betrifft, die 
Glaubens- und Gewissensfreiheit, so ist's allerdings die erste Bedingung 
eines freien Staates, daß „Jeder nach seiner Facon selig werden“, Jeder 
glauben kann, was er will. Aber diese Freiheit ist eine sehr unterge— 
ordnete und inhaltslose; denn sie ist nichts Andres, als die Freiheit 
oder das Recht, daß Jeder auf eigene Faust ein Narr sein kann. Der 
Staat in unserem bisherigen Sinne kann allerdings nichts weiter thun, 
als sich aller Eingriffe in das Gebiet des Glaubens zu enthalten, als 
unbedingte Freiheit in dieser Beziehung zu geben. Aber die Aufgabe 
des Menschen im Staate ist, nicht nur zu glauben, was er will, sondern 
zu glauben, was vernünftig ist; uͤberhaupt nicht nur zu glauben, son— 
dern auch zu wissen, was er wissen kann und wissen muß, wenn er ein 
freier und gebildeter Mensch sein will. Nicht kann man sich hier mit der 
Schranke des menschlichen Wissens helfen. Im Gebiete der Natur giebt 
es allerdings noch genug Unbegreifliches; aber die Geheimnisse der Re— 
ligion, die aus dem Menschen entspringen, kann auch der Mensch bis 
auf den letzten Grund erkennen. Und eben, weil er es kann, soll er es 
auch. Endlich ist eine durchaus oberflaͤchliche, von der Geschichte, selbst 
von dem gewöhnlichen Leben tagtäglich widerlegte Ansicht, daß die Re— 
ligion keinen Einfluß auf das öffentliche Leben habe. Diese Ansicht 
stammt daher nur aus unserer Zeit, wo der religiöse Glaube nur noch 
eine Chimäre ist. Wo ein Glaube freilich keine Wahrheit im Men— 
schen mehr ist, da hat er auch keine practischen Folgen, da bringt er 
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