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mn nen; aber ein solches absonderliches Jenseits wäre etwas Unglaubliches
und Widersinniges. Aber so wie der Wunsch des ewigen Lebens ist
auch der Wunsch der Allwissenheit und unbegränzter Vollkommenheit
nur ein eingebildeter Wunsch, und der diesem Wunsch untergelegte un—
beschränkte Wissens- und Vervollkommnungstrieb nur dem Menschen
angedichtet, wie die tägliche Erfahrung und Geschichte beweist. Der
Mensch will nicht Alles, er will nur wissen, wozu er eine besondere Vor—
liebe und Neigung hat. Selbst der Mensch von universellem Wissens—
trieb, was eine seltene Erscheinung ist, will keineswegs Alles ohne Un—
terschied wissen; er will nicht alle Steine kennen, wie der Mineralog
von Fach, nicht alle Pflanzen, wie der Botaniker; er begnuͤgt sich mit
dem Allgemeinen, weil dieses seinem allgemeinen Geist entspricht. Eben
so will der Mensch nicht Alles können, sondern nur das, wozu er einen
besonderen Trieb in sich verspuͤrt; er strebt nicht nach einer unbegränz—
ten, unbestimmten Vollkommenheit, die nur in einem Gott oder endlosen
Jenseits sich verwirklicht, sondern nur nach einer bestimmten, begränzten
Vollkommenheit, nach der Vollkommenheit innerhalb einer bestimmten
Sphäre. Nicht nur die einzelnen Menschen sehen wir daher stehen
bleiben, wenn sie einmal auf einen bestimmten Standpunkt, auf einen
bestimmten Grad der Ausbildung und Vervollkommnung ihrer Anlagen
angelangt sind, sondern selbst ganze Völker sehen wir Jahrtausende lang
unverrückt auf demselben Standpunkt stehen bleiben. So stehen die
Chinesen, die Inder heute noch da, wo sie bereits vor Jahrtausenden
standen. Wie reimen sich diese Erscheinungen mit dem schrankenlosen
Vervollkommnungstrieb, den der Rationalist dem Menschen andichtet
u und dem er daher in einem unendlichen Jenseits einen Platz einzuräumen
sucht? Der Mensch hat im Gegentheil nicht nur einen Trieb, fortzu⸗
n schreiten, sondern auch einen Trieb zu rasten, auf dem einmal gewonne—
ih hs nen, der Bestimmtheit seines Wesens entsprechenden Standpunkt zu
L beharren. Aus diesen entgegengesetzten Trieben entspringt der Kampf
Gefuh⸗ der Geschichte, der Kampf auch unserer Gegenwart. Die Progressisten,