Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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Scandale der modernen Christen ausgesprochene Indentität des natuͤr⸗ 
lichen und goͤttlichen Zufalls er- oder verrathen hat. So sagt der naiv 
fromme Aventin: „Gott und die Natur und das Glück hat⸗ 
sen ein ander beschlossen, da die Unsern meinten, sie hatten schon ge⸗ 
wonnen“. Und bei einer andern Gelegenheit, wo „die Ungarn von 
Wind und Wetter in die Flucht geschlagen werden,“ sagt er: „da wurd 
also jähling vielleicht aus Gnaden Gottes oder ungefehr 
die Sonn verblichen“ u. s. w. 
Das vom Menschen unterschiedene und unabhängige Wesen, der 
Gegenstand der Religion, ist keineswegs nur die äußere, sondern auch 
die eigne, innere, aber von seinem Wissen und Wollen unterschiedene 
und unabhängige Natur des Menschen. Mit diesem Satze sind wir an 
den wichtigsten Punkt, an den eigentlichen Sitz und Ursprung der Reli— 
gion gekommen. Das Geheimniß der Religion ist zuletzt nur das Ge— 
heimniß der Verbindung des Bewußtseins mit dem Be— 
wußtlosen, des Willens mit dem Unwillkürlichen in 
einem und demselben Wesen. Der Mensch will, und doch hat 
er Willen ohne seinen Willen — wie oft beneidet er die willenlosen We⸗ 
sen! — er ist bewußt, und doch ist er ohne Bewußtsein zum Bewußtsein 
gekommen — wie oft bringt er sich selbst um sein Bewußtsein! und wie 
gerne sinkt er am Schlusse des Tagwerks in die Bewußtlosigkeit zurück! — 
er lebt, und doch hat er weder den Anfang, noch das Ende des Lebens 
in seiner Gewalt; er ist geworden, und doch, wenn er einmal fertig da⸗ 
steht, kommt es ihm vor, als waäre er durch eine generatio spontanea 
entstanden, als wäre er plötzlich über Nacht wie ein Pilz aufgeschossen; 
er hat einen Körper, er empfindet ihn bei jeder Lust, bei jedem Schmerz 
als den seinigen, und doch ist er ein Fremdling im eignen Wohnhaus; 
er bekommt mit jeder Freude einen Lohn, den er nicht verdient, aber 
auch mit jedem Leiden eine Strafe, die er nicht verschuldet hat; er
	        
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