Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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3 empfindet das Leben in glücklichen Momenten als ein Geschenk, das er 
sich nicht erbeten, aber in unglücklichen als eine Last, die ihm wider sei— 
nen Willen aufgebürdet worden ist; er fühlt die Qual der Bedürfnisse, 
und doch befriedigt er sie, ohne zu wissen, ob er es aus eignem oder 
fremdem Antrieb thut, ob er sich oder ein fremdes Wesen damit befrie— 
digt. Der Mensch steht mit seinem Ich oder Bewußtsein an dem Rande 
2R eines unergründlichen Abgrunds, der aber nichts Andres ist, als sein 
eignes bewußtloses Wesen, das ihm wie ein fremdes Wesen vorkommt. 
Das Gefühl, das den Menschen an diesem Abgrund ergreift, das in 
die Worte der Be-⸗ und Verwunderung ausbricht: was bin Ich? woher? 
Wemn der wozu? ist das religiöse Gefühl, das Gefühl, daß Ich Nichts bin ohne 
mne ein Nichtich, welches zwar von mir unterschieden, aber doch mit mir 
innigst verbunden, ein anderes und doch mein eigenes Wesen ist. 
Aber was ist denn Ich, was Nichtich in mir? Der Hunger als solcher 
oder die Ursache desselben ist Nichtich; aber das peinliche Empfindniß 
oder Bewußtsein des Hungers, welches mich zugleich antreibt, alle meine 
Bewegungswerkzeuge nach einem Gegenstande zur Stillung dieser Pein 
auszustrecken, das ist Ich. Die Factoren des Ichs oder Menschen, des 
eigentlichen Menschen, sind also Bewußtsein, Empfindung, willkürliche 
Bewegung — willkürliche, denn unwillkürliche Bewegung gehört schon 
ins Jenseits des Ich, ins Gebiet des göttlichen Nichtich — daher man 
in Krankheiten, wie z. B. in der Epilcpsie, und in den Zuständen der 
Exstase, der Verrücktheit, des Wahnsinns Offenbarungen Gottes oder gött⸗ 
liche Erscheinungen erblickt hat. Was wir eben an dem Beispiel des Hun— 
gers zeigten, dasselbe gilt auch von höhern, geistigen Trieben. Ich empfinde 
nur den Trieb zum Dichten z. B. und befriedige ihn durch willkürliche Thaäͤ— 
tigkeit, aber der Trieb selbst in der Anlage zu dessen Befriedigung ist Nichtich; 
obgleich, was aber nicht hierher gehört, Ich und Nichtich so mit einander 
verwächst, daß eins für das andere gesetzt werden kann, indem das 
Nichtich eben so wenig ohne Ich ist, als das Ich ohne Nichtich; ja diese 
Einheit von Ich und Nichtich das Geheimniß, das Wesen der In di⸗ 
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