Ajax Mastigophoros, und wenn er auch noch einen so gewaltigen Körper
hat, muß stets daran denken oder fürchten, daß er auch durch den klein⸗
sten Unfall stürzen kann.“ Wir Menschen sind nichts Andres, sagt er
ebendaselbst, als wesenlose leichte Schatten. Daran wenn du denkst,
wirst du nie ein üͤbermüthiges Wort gegen die Götter vorbringen, noch
dich aufblähen, wenn du stärker oder reicher als Andere bist, denn ein
einziger Tag kann dir Alles, was du hast, wiedernehmen. Als Ajsar
das väterliche Haus verließ, sagte der Vater zu ihm: „Sohn! wolle
siegen im Krieg, aber immer nur siegen mit Gott“. Aber Ajax gab
darauf die thörichte und uͤbermüthige Antwort: „Vater! mit den Göt—
tern kann auch einer, der Nichts ist, den Sieg davon tragen; ich aber
hoffe auch ohne sie mir Kriegsruhm zuzuziehen“. Diese Rede des
wackern Ajax war allerdings nicht nur irreligiös, sondern auch unbe⸗
sonnen, denn auch dem tapfersten und stärksten Mann kann ja über
Nacht ein bloßer rheumatischer Unfall oder sonst ein zufälliges Malheur
den Arm laͤhmen. Wenn also Ajax auch nichts mit den Göttern zu
thun haben wollte, so hätte er doch wenigstens ein bescheidenes Wenn
in seine Rede einschalten, sagen sollen: wenn mir nichts Wibriges wider—
faͤhrt, werde ich siegen. Die Religiosität ist daher gar nichts Andres,
als die Tugend der Bescheidenheit, die Tugend der Mäßigung im Sinne
der griechischen Sophrosyne — die Sophrones, sagt Sophokles, liebt
Gott — die Tugend, kraft welcher der Mensch nicht die Gränzen seiner
Natur überschreitet, nicht sich in seinen Gedanken und Verlangen über
das Maaß des menschlichen Wesens und Vermögens erhebt, nicht sich
anmaaßt, was nicht des Menschen, kraft welcher er daher sich den stolzen
Titel eines Autors abspricht, die Werke, die er schafft, selbst die Werke
Unterschied zwischen Natur und Mensch oder Ich verschwinden, desto mehr erkennt er,
daß er nur das oder ein bewußtes Bewußtloses, das oder ein Ich seiendes
Nichkich ist. Daher ist der Mensch das allertiefste und tiefsinnigste Wesen. Aber der
Mensch begreift und erträgt seine eigne Tiefe nicht und zerspaltet daher sein Wesen in
ein Ich ohne Nichlich welches er Gott, und ein Nichtich ohne Ich, welches er Natur
nennt.
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