410
mir, seinem Wesen gemäße; dieses Verhalten ist allerdings kein reli—
giöses, aber auch kein irreligiöses, wie der gemeine und gelehrte
Pöbel sich vorstellt, welcher nur den Gegensatz von Glauben und Un—
glauben, von Religion und Irreligion, aber nicht ein Drittes, Höheres
uber beiden kennt. Sei so gut, liebe Erde, sagt der Religiöse, und gieb
mir eine gute Ernte. Die „Erde mag wollen oder nicht, sie muß mir
Früchte geben“, sagt der Irreligiöse, der Polyphem; die Erde wird mir
geben, sagt der wahre, weder religiöse, noch irreligiöse Mensch, wenn
ich ihr gebe, was ihrem Wesen gebuͤhrt; sie will weder geben, noch
muß sie geben — nur das Gezwungene, Widerwillige muß — sondern
sie wird blos geben, wenn alle Bedingungen auch meinerseits erfüllt
sind, unter denen sie etwas geben oder vielmehr hervorbringen kann;
denn die Natur giebt mir nichts, ich muß mir selbst Alles, was wenigstens
nicht unmittelbar mit mir zusammenhaͤngt, sogar auf höchst gewaltthätige
Weise aneignen. Wir verbieten unter uns kluger und egoistischer Weise
den Mord und Diebstahl, aber in Beziehung auf andere Wesen, in Be⸗
ziehung auf die Natur sind wir alle Mörder und Spitzbuben. Wer
giebt mir das Recht auf den Hasen? Der Fuchs und der Geier haben
eben so gut Hunger und Recht zu existiren, als ich. Wer das Recht
auf die Birne? sie gehoͤrt eben so gut der Ameise, der Raupe, dem Vo—
gel, dem Vierfuͤßler. Wem gehört sie also eigentlich? Dem, der sie
nimmt. Und dafuͤr, daß ich nur von Mord und Diebstahl lebe, soll
ich noch den Göttern danken? Wie einfältig! Ich bin nur zu Dank
gegen die Götter verpflichtet, wenn sie mir beweisen, daß ich wirklich
nur ihnen mein Leben verdanke, und dieses beweisen sie mir nur dann,
wann mir die Tauben unmittelbar aus dem Himmel gebraten ins Maul
fliegen. Ich sage: gebraten? Ol das ist viel zu wenig; ich muß
sagen: zerkaut und verdaut, denn für Götter und ihre Gaben geziemen
sich nicht die langweiligen und unaͤsthetischen Operationen der Zerkauung
und Verdauung. Wie kann ein Gott, der die Welt in einem Nu aus
Nichts schafft, so viel Zeit und Muͤhe brauchen, bis er ein Bißchen