Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

den Kuͤnstler zum Kuünstler, als daß eben seine individuellen Neigungen 
Vorstellungen und Anschauungen künstlerische sind? Und was ist denn 
die Idee des Kuͤnstlers, von der er getrieben wird, anders, als ein mehr 
oder weniger unbestimmtes Bild eines anderen Individuums“, d. h. 
hier Kunstwerks „oder eines anderen individuellen Zustandes“ der 
Kunst, als der bisherige war? Was sind denn überhaupt „individuelle 
Neigungen und Vorstellungen“? Es sind Vorstellungen und Neigun⸗ 
gen, die nicht zu diesem Berufe, zu diesem Standpunkt, zu dieser Sache 
gehören, die aber an sich eben so wesentlich, eben so positiv als andere 
sind. Z.aB. ich mache ein erhabenes Gedicht, während dessen fallen 
mir allerlei komische Scenen ein, wozu ich eine besondere Neigung habe, 
und unterbrechen mich in meinem Flug; diese Vorstellungen sind „indi— 
viduelle“, die ich fern halten, abweisen muß, wenn ich mein Thema er— 
füllen will; sie sind es aber nicht mehr, so wie ich sie selbst zum Gegen— 
stand eines eigenen Kunstwerks mache, so wie ich ihnen den gehörigen 
Platz einräume. Dieser Mensch ist ein Maler; er hat an seiner Kunst 
den Grund und Haltpunkt seiner materiellen und geistigen oder mora⸗ 
lischen Existenz; außer dieser seiner aus Neigung erwählten und öffent— 
lich anerkannten Gattin hat er aber noch andere Passionen; er ist auch 
ein Liebhaber der Musik, der Reitkunst, der Jagd u. s. w. er vernach⸗ 
laͤssigt darüber seine eigentliche Kunst und stürzt dadurch sich und seine 
Familie ins Verderben. Diese Passionen sind allerdings hier „indivi— 
duelle Neigungen“; sind sie aber an sich verwerfliche? haben sie nicht 
anerkannte, objective Existenz in andern Individuen? giebt es keine 
Reiter, keine Musiker, keine Jäger aus Neigung und von Profession? 
Dieses Dienstmädchen findet zufällig das Schmuckkästchen ihrer Ge— 
bieterin geoffnet; sie erblickt darin eine Menge kostbarer Ringe; es ent⸗ 
steht in ihr der Wunsch: ach! wenn ich nur auch meine leeren Finger 
mit solcher Herrlichkeit schmücken könnte. Die verführerische Gelegen— 
heit macht den Wunsch zur That — das arme Geschöpf stiehlt und 
kommt in das Strafarbeitshaus. Ist diese Neigung zu einem Edel— 
452—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.