Full text: Immanuel Kant's sämmtliche Werke (6. Band)

318 Ueber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein ete. 
augenblicklich ziehen würde, wenn er jenes’Pfand sich zueignete; zu- @ 
gleich sei er Menschenfreund und wohlthätig, jene Erben aber reich, W 
lieblos, und dabei im höchsten Grad üppig und verschwenderisch, so * 
dass es ebenso gut wäre, als ob dieser Zusatz zu ihrem Vermögen ins 9 
Meer geworfen würde. Und nun frage man, ob es unter diesen Um- 0 
ständen für erlaubt gehalten werden könne, dieses Depositum in eigenen . 
Nutzen zu verwenden? Ohne Zweifel wird der Befragte antworten: ' 
nein! und statt aller Gründe nur blos sagen können: es ist unrecht, 2 
d. i. es widerstreitet der Pflicht. Nichts ist klärer, als dieses; aber } 
wahrlich nicht so, dass er seine eigene Glückseligkeit durch die u 
Herausgabe befördere. Denn wenn er von der Absicht auf die letztere n 
die Bestimmung seiner Entschliessung erwartete, so könnte er z. B. so S 
denken: „gibst du das bei dir befindliche fremde Gut unaufgefordert S 
den wahren Eigenthümern hin, so werden sie dich vermuthlich für deine 7 
Ehrlichkeit belohnen; oder, geschieht das nicht, so wirst du dir einen © 
ausgebreiteten guten Ruf, ‚der dir sehr einträglich werden kann, erwer- 0 
ben. Aber alles dieses ist sehr ungewiss. Hingegen treten freilich auch 2 
manche Bedenklichkeiten ein: wenn du das Anvertraute unterschlagen n 
wolltest, um dich auf einmal aus deinen bedrängten Umständen zu ı 
ziehen, so würdest du, wenn du geschwinden Gebrauch davon machtest, 
Verdacht auf dich ziehen, wie und durch welche Wege du so bald zu 
einer, Verbesserung deiner Umstände gekommen wärest; wolltest du 
aber damit langsam zu Werke gehen, so würde die Noth mittler Weile | 
so hoch steigen, dass ihr gar nicht mehr abzuhelfen wäre.“ — Der 
Wille also nach der Maxime der Glückseligkeit schwankt zwischen 
seinen "Triebfedern, was er beschliessen solle; denn er sieht auf den Er- _ 
folg, und der ist sehr ungewiss; es erfordert einen guten Kopf, um sich 
aus dem Gedränge von Gründen und Gegengründen herauszuwickeln 
und sich in der Zusammenrechnung nicht zu betrügen. Dagegen, wenn 
er sich fragt, was hier Pflicht sei, so ist er über die sich selbst zu gebende 
Antwort gar nicht verlegen, sondern auf der Stelle gewiss, was er zu 
thun habe. Ja, er fühlt sogar, wenn der Begriff von Pflicht bei ihm 
etwas gilt, einen Abscheu, sich auch nur_auf den Ueberschlag von Vor- 
theilen, die ihm aus ihrer Uebertretung erwachsen könnten, einzulassen, 
gleich als ob er hier noch die Wahl habe. 
Dass also diese Unterschiede, (die, wie ebeh gezeigt worden, nicht 
so fein sind, als Herr GARVE meint, sondern mit der gröbsten und leser- 
lichsten Schrift _in_die Seele des Menschen geschrieben sind.) sich. wie
	        
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