Die neuere Entwicklung der Physik nimmt in immer weiterem
Umfange von den Begriffsbildungen der reinen Mathematik Besitz
und die früher für rein abstrakt gehaltenen, für bloße Gedankenkon-
struktionen angesehenen Gebilde der imaginären Zahleneinheit, wie
der hierauf aufgebauten mehrgliedrigen Zahlbegriffe haben ebenso
ihre physikalische Deutung erfahren wie die mehrdimensionalen
Räume und die nichteuklidischen Geometrien. Die allgemeine Rela-
tivitätstheorie kann ohne diese früher für völlig unanwendbar auf
Naturgegenstände gehaltenen Begriffsbildungen nicht auskommen.
Sie bestätigt daher Kants Gültigkeitstheorie von der Mathematik. Es
heißt, den Begriff der gültigen Gegenstände isolieren, ihn zum Inhalt
einer höchst zweifelhaften, weil unkritischen Metaphysik machen,
wenn man die Korrelation zwischen Gültigem und Wirklichem zer-
schneidet. Gültig ist ein Inhalt immer nur in seiner Bezogenheit auf
das Ungültige, das Nochnichtgültige, das Wirkliche. Gültigsein — und
das betrifft ebenso die Gesetze der Logik selbst und deren Gültigsein
— heißt stets gültigsein für Etwas, für ein Wirkliches. Die Urteils-
gesetzlichkeit führt nicht ein Sein, das völlig losgelöst wäre von allen
Beziehungen zum Ich und seiner Erlebnismöglichkeit, sondern die
Gültigkeit der Urteilsgesetze empfängt ihren bestimmten Sinn erst
durch ihre Bezogenheit zum Wirklichen. Form und Material der Er-
kenntnis sind korrelativ. Dies ist der eigentliche Sinn der Korrelation
von Ichheit und Urteil in der transzendentalen Apperzeption.
4. Weil Raum und Zeit die Entfaltung der Synthesis in der reinen
Mathematik bedeuten, darum beweist Kant ihre Gültigkeit als Korre-
lation zwischen Gültigsein und Wirklichsein. Erst durch diese Er-
kenntnis aber wird der Weg freigemacht, um Zeit und Raum und die
Mathematik in ihrer Bedeutung für den Kulturbegriff würdigen zu
können. Die Bedeutung der Mathematik liegt vor allem in ihrer Leit-
funktion für die Naturwissenschaft und Technik, ein Thema, das be-
reits skizziert worden ist, so daß wir hier darauf verzichten können.
Zeit und Raum werden als Ordnungsformen der Materie erwiesen.
Weil Materie kein Ding an sich ist, aber dennoch gegenständlichen
Wert hat, so gewinnt die Materie ihre eindeutige Beziehung zum Ich
des Einzelnen mittels der Zeit- und Raumordnung. Sie steht durch
Zeit und Raum in Wechselbeziehung zum Ich. Zeit und Raum be-
deuten daher die Entfaltungsmöglichkeit des Gestaltens der gegebenen
Mannigfaltigkeit der Materie. Wäre die Materie keine Erscheinung in
Zeit und Raum, sondern ein Ding an sich, so wäre die Möglichkeit
jedes Gestaltenkönnens durch ein Ich ausgeschlossen. Zeit und Raum
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