Full text: Kant

genstände der Wirklichkeit herauszugreifen und zu isolieren, so 
widerspricht anscheinend diesen Begrenzungsfunktionen die Aus- 
weitungstendenz, die in der durch Kausalität und Wechselwirkung 
herbeigeführten Kontinuität alles Geschehens begründet ist. Mag die 
Handlung auch ihren Ausgang von einem einzelnen empirischen Ich 
nehmen, so ist sie doch, wie man auch diesen „Vorgang“ der Freiheit 
sich denken mag, durch eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von 
Momenten eingeengt und daher mitbedingt, die sich in ihrer zeitlichen 
und räumlichen Umgebung befinden. Was daher zur einzelnen Hand- 
lung gehört, wie weit ihre Auswirkung sich erstreckt, welche Begleit- 
umstände in sie einzubeziehen sind, alles dies drängt dazu, die Hand- 
lung in den Fluß alles Geschehens verfließen zu lassen, ihr überhaupt 
keine bestimmbaren Grenzen zuzuerkennen. Eine so einfache Hand- 
lung wie das Lügen wird unter diesen Gesichtspunkten zu einem un- 
geheuren, niemals gedanklich ausschöpfbaren Mikrokosmus, der 
prinzipiell völlig einzigartig ist und selbst durch die genaueste wissen- 
schaftliche Beschreibung nicht in völliger Treue begrifflich darge- 
stellt werden kann. Die Einzelhandlung gerät durch diesen unauf- 
hebbaren Zusammenhang, der sie mit dem Gesamtstrome des Ge- 
schehens verknüpft, in eine so innige Verflechtung mit den ihr zeitlich 
und räumlich benachbarten Veränderungen, daß es fraglich erschei- 
nen muß, ob es möglich ist und ob das Recht dazu besteht, sie als 
eine einzelne Handlung aus diesen Verflechtungen herauszulösen. 
Obgleich es unmöglich ist, die Handlung, ebenso wie jeden wirklichen 
Gegenstand überhaupt, in völlig erschöpfender Weise zu beschreiben, 
so beweist nun aber der Tatbestand der Geschichtswissenschaft, daß 
es dennoch möglich ist, eine einmalige Handlung wenigstens soweit 
begrifflich zu fixieren, daß sie in ihrer Einmaligkeit heraustritt. Zu- 
gleich besteht, wenigstens im Rahmen der Geschichtswissenschaft, 
auch das Recht, die Handlung soweit zu isolieren, daß ihre einmalige 
geschichtliche Bedeutsamkeit offenbar wird. Die Windelband-Rickert- 
sche Theorie der historischen Erkenntnismethode zeigt, daß gerade 
diese Möglichkeit, das Einzelne in seiner Kulturbedeutung zu beschrei- 
ben, das Wesentliche des Erkenntnisgefüges der historischen Gegen- 
stände ausmacht. 
Wie aber steht es mit dieser Möglichkeit und diesem Rechte im 
Gebiet der moralischen Beurteilung der eigenen und der fremden 
Handlungen? Sie bedarf eines Prinzips, das den Mikrokosmus der 
Handlung sowohl begrenzt und auswählt, wie auch bewertet. Und 
ein solches Prinzip gibt es. Die von Kant gewählten Beispiele einzel- 
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