Full text: Kant

fen. Dieses speziellere Verhältnis des Sittengesetzes zur Handlung 
braucht daher nicht für das konstitutive Prinzip der Bestimmung der 
Handlung überhaupt vorausgesetzt werden. 
3. Die Fähigkeit des Sittengesetzes, als Kriterium zu wirken, reicht 
also nicht bis zur singulären Handlung herab, sondern nur bis zur 
werthaft typisierten. Es ist daher jetzt die Frage, wie die allgemeinen 
Inhalte der Kulturwerte sich zu differenzieren vermögen, ‘um als 
Normen für typisierte Handlungen gelten zu können. Es ist klar, daß 
die Relationen zwischen den höchsten Zwecken und den Mitteln zu 
ihrer Verwirklichung in diese Differenzierung eingehen müssen. Da- 
her ist es notwendig, daß der sittlich Handelnde eine möglichst adä- 
quate Einsicht in das Sinngefüge der höchsten Werte habe. Er bedarf 
einer Art intuitiven Verstandes, um zur rechten Zeit und am rechten 
Ort die den Mitteln und Zwecken richtig angepaßte Handlung zu 
wollen und zu leisten. Das Problem des besonderen Falles weist daher 
in eine Richtung, die die Fähigkeit haben muß, die unübersehbare 
Irrationalität des singulären Seins zu bewältigen. Auf dem Wege dis- 
kursiven Erkennens ist dies unmöglich; hier bleibt nur die Möglich- 
keit, auf dem metaphysischen Wege über psychologische Ganzheiten 
dies geheimnisvolle Fließen des Lebens in feste Formen einzufangen. 
Gewiß! Sollen die Kulturwerte verwirklicht werden, dann müssen 
alle allgemeinen Gesetze, die sie hemmen oder gar verhindern, un- 
moralischen Handlungen entsprechen. Geht also durch ein allgemei- 
nes Gesetz die Menschheit zugrunde, dann wird sie, wenigstens auf 
unserem Planeten, an der Verwirklichung der Kulturwerte gehindert 
und somit taugt weder das Lügen noch das Unterschlagen des Depots 
zum allgemeinen Gesetz, ist also unmoralisch. Da das Sittengesetz 
auch die notwendigen Mittel zur Verwirklichung der Kulturwerte 
verlangen muß, so gehört leibliche Ertüchtigung, Erzeugung einer 
möglichst lebensfähigen Nachkommenschaft auf der Grundlage der 
Vererbungs- und Klassengesetze, überhaupt die Erzeugung einer mö$g- 
lichst großen biologischen Lebensenergie der Individuen ebenso zu 
den moralischen Pflichten wie die Entfaltung einer möglichst reichen 
und tiefen Geistesbildung und Produktion geistiger Werte. Zweifellos 
ist auch bei Kant der Begriff der Tauglichkeit zur allgemeinen Gesetz- 
gebung in dieser Bedeutung zu nehmen. Aber mit diesen allgemeinen 
Zielen vermag die sittliche Gesetzgebung noch nicht den einzelnen 
typisierten Fall zu normieren. 
Dem Sittengesetz wird durch die Einbeziehung der einzelnen Kul- 
turwerte zwar seine formale Struktur genommen; es gewinnt die 
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