so naiv, noch so instinktiv vor sich gehen, er ist für ein vernünftig
handelndes Ich, das Ziele erreichen will, gefordert. Diese vom Ver-
stehen des Sittengesetzes geforderte Übersehbarkeit der Wirklichkeit
ist also nicht die theoretische Erfahrungserkenntnis, die niemals voll-
endbar ist und darum die hier verlangte Übersehbarkeit nicht leisten
kann. Die Übersehbarkeitsforderung kann vielmehr nur durch eine
Überschau über die im einzelnen Falle für möglich gehaltenen Wert-
verwirklichungen erfüllt werden, wie sie auf der Grundlage des Ge-
füges der bestehenden Wertbeziehungen zwischen Menschen und
Dingen der Umwelt sich ergeben, um daraus die sittliche Wertbezie-
hung als die allein zur allgemeinen Wertgesetzgebung taugliche, d. h.
sie nach Möglichkeit verwirklichende, herauszufinden. Die Natur und
ihre Gesetzmäßigkeit ist dabei eingeordnet zu denken in die Zusam-
menhänge der Kultur; sie tritt als Mittel und Material auf, um gemäß
den Bedingungen der Verwirklichung sittlicher Werte gestaltet zu
werden. Es gilt, die Kulturwerte als eine übersehbare und darum
geschlossene Wertordnung zu begreifen, um die ihrem Gefüge ent-
sprechende, für mich im Augenblick gebotene Handlung herauszu-
erkennen und so aus Freiheit, d. h. aus Einsicht und Achtung vor
dem Sittengesetz und seiner gebotenen Kulturordnung zu wählen.
Es ist klar, daß das persönliche Wertsystem des Individuums, seine
Weltanschauung und die Einzigkeit der ganzen augenblicklichen
Lebenssituation unter diesen Bedingungen mit in die Anwendung des
Sittengesetzes eingehen. Daher ist jetzt das Individuellpersönliche wie
überhaupt das Einmalige in die Maßstäbe, die das Sittengesetz zu
gewähren vermag, trotz der Typisierung der Handlung, eingeschaltet.
Die subjektive Einzigkeit der Handlung wird dadurch vom Sitten-
gesetz erreicht. Es leuchtet jetzt soweit in den Einzelfall hinein, daß
es ihn messen kann. Und diese Maßmöglichkeit ist in einem zwie-
fachen Sinn zu verstehen. Das handelnde Subjekt kann jetzt im Ein-
zelfall seine eigene Handlungsweise beurteilen. Aber anderseits be-
steht jetzt auch die Möglichkeit, die Handlungen anderer nach wis-
senschaftlich objektiver Methode zu beurteilen. Aber die Metaphysik
geht doch in die Beurteilung mit ein!? Die moralische Bewertung be-
deutet keinen Gegensatz gegen die theoretische Kulturwertbeziehung
des historischen Gegenstandes, sondern sie kann diese vielmehr ein-
schließen, ja voraussetzen. Die Einzelhandlung kann also zunächst
einmal in ihrem historischen Zusammenhange und in ihrer geschicht-
lichen Bedeutung erkannt werden. Überdem aber ist jetzt der mora-
lischen Beurteilung der Einzelhandlung gerade auf der Grundlage
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