das Werk mit der Unendlichkeit seiner Gliederung unfrei erscheint,
so daß gerade das Schaffen des Genies der sittlichen Freiheit entbehren
müßte, so könnte eine solche Folgerung nur aus der einseitigen Strenge
und Absolutheit des moralischen Wertes bei Kant fließen. In Wahr-
heit ist gerade der große Genius das Ich, das sich im Handeln der
größten Freiheit erfreut. Nicht um die Freiheit als Tatsache geht es
dabei, geschweige daß äußere Bewegungsfreiheit gemeint sei, denn
diese ist für das Genie oft besonders eingeschränkt, weil die Lebens-
hemmungen wegen der Größe der Spannung zwischen den geistigen
Tendenzen der Seele und der entgegenstehenden Materie des Lebens
von einer besonderen Dimension sind. Die Freiheit ist hier vielmehr
die Möglichkeit des Selbst, sich am Werk und für das Werk zu ge-
stalten. Das Werk ist zwar für den Genius Selbstzweck, letzter Zweck,
von seinem Ich aus gesehen; denn er schafft nur für sich, indem er
seinem Gestaltungstriebe folgt und zugleich im Geschaffenen über das
Formgesetz dieses Triebes auch wieder hinausdringt, ihn von innen
her überwältigend. Aber andererseits ist doch das Werk von einem
den anderen Individuen unerreichbaren, objektiven Werte für die
Kultur, es ist wegweisend für die Gesamtheit hinauf in höhere Lebens-
form. Dieses Hinauf kann sich nur aus der inneren Freiheit des Genies
entfalten, weil das Gesetz der Freiheit, wie das nächste Kapitel näher
begründen soll, die Möglichkeit der Entfaltung bisher unbekannter
Gültigkeitswerte ist, die den Idealen der Kultur näher stehen als das,
was der Zeitgeist im trägen Strome des Kulturwandels als Durch-
schnittsgut mit sich führt.
Der Selbstwert des Genies steht daher auch höher als der des
Durchschnittsmenschen, mag dieser auch ein noch so „anständiger
Kerl“ gewesen sein, und dieser Sachverhalt beweist, daß die aus dem
allgemeinen Prinzip des Moralischen zu folgernde Gleichheit aller
Menschen vor dem moralischen Gesetz im Hinblick auf besondere
Fälle nicht zutrifft. Man denke etwa an die moralische Auswertung
eines Genies, das Ehebruch getrieben hat. Hier stehen auf der einen
Seite ganz bestimmte Kulturgüter, die Ehe und die Erziehung der
Nachkommenschaft, während auf der anderen das geniale Werk, die
große Leistung auf wissenschaftlichem, künstlerischem oder politisch-
sozialem Gebiete einzuwägen ist. Das kantische Sittengesetz in seiner
prinzipienhaften Gestalt beurteilt die Leistung nach dem allgemeinen
Gesetzesmaßstabe der Maxime, die sich zum Prinzip der allgemeinen
Gesetzgebung eignet; es kann die Leistung und ihre Werthöhe nicht
graduell beurteilen, wobei es noch problematisch bleibt, ob überhaupt
131