zufällig wohlwollende Machthaber, zur Verwirklichung seiner Kultur-
ziele die nötigen materiellen Mittel aus.
Es besteht daher durch die Kultur ein Ausgleich zwischen Glück
und Tugend, indem die Kulturgemeinschaft jeden Einzelnen nach
seinen moralischen Verdiensten zu würdigen sucht, wie unvollkommen
dieser Würdigungsprozeß im besonderen Falle auch heutzutage durch-
geführt werden mag. Daß die neuere Zeit dem Altertum gegenüber
hierin große Fortschritte gemacht hat, kann indessen niemandem
verborgen bleiben, der sich etwa des ausgebreiteten Sklaventums
selbst zu den Blütezeiten der Athener erinnert, der sich den unge-
heuren, oft jähen Wandel der Schicksale der Bewohner Trojas oder
Babylons vergegenwärtigt, wie ihn die Ausgrabungen Schliemanns
und Koldeweys ganz unmittelbar der Gegenwart vor Augen geführt
haben. Einzelne Rückfälle ins Tierische können keinen negativen
Maßstab für den Kulturfortschritt bedeuten. Als ewig gesollt kann
der Idealzustand der Kultur niemals erreicht werden; er würde die
Menschheit ausgestalten in eine Harmonie der schönen Seelen, in
denen triebhafte Glücksneigungen und Achtung vor dem Sittengesetz
völlig parallel gehen. Insbesondere müßten in der Ehe, als der Zwei-
einheit schöner Seelen, die sinnliche Neigung und das sittliche Pathos
miteinander in Harmonie stehen. Die Zufälligkeit glücklicher Ehen
bei unvollkommenem Kulturzustande würde im Idealzustande sich
zur Notwendigkeit hinaufsteigern.
Wenn auch Kant all diesen Gedanken keinen expliziten Ausdruck
verliehen hat, so schwebt ihm als Ziel der allgemeinen Geschichte
jedenfalls das Kultursystem als die vollendete Entfaltung seiner Frei-
heitsidee vor. Es sind Gedankenreihen, die bei seinen Nachfolgern zu
weiterer Ausgestaltung gelangt sind, weil sie bei ihm selbst schon
angelegt waren. Es rechtfertigt sich von neuem, das kantische System
als eine Theorie des Kulturbewußtseins zu verstehen, wenn man es
als ein einheitliches, die Gesamtheit des Weltgeschehens in systema-
tischer Einheit deutendes Ganzes aufzufassen sucht.
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