Full text: Kant

theoretischen, sinnlich erfahrbaren Gegenstände abgleiten zu lassen. 
Darum gehört auch das Sinnliche in der Gestalt von Reiz und Rüh- 
rung nicht zu den Gründen des Geschmacksurteils. Im Verein mit 
der formalen Fragestellung überhaupt drängt dieses Moment Kant 
dazu, die ästhetische Bedeutung der Empfindungen zu unterschätzen. 
Da das Geschmacksurteil sich nicht unmittelbar auf dem Erlebnis 
sinnlicher Reize aufbauen und begründen darf, so sei der eigentliche 
Gegenstand des Geschmacksurteils die farblose Linienkomposition, 
also die bloße Zeichnung. Den Farben komme nur die sekundäre Be- 
deutung zu, die Zeichnung „genauer, bestimmter und vollständiger 
anschaulich“ zu machen. Die Gestalt also sei der entscheidende ästhe- 
tische Faktor am Gegenstande. 
Darin fassen sich die Grundgedanken zusammen, die den Begriff 
dessen tragen, was heute als Gestaltästhetik bezeichnet wird, im Ge- 
gensatz zur Gehaltästhetik, die die dargestellten Inhalte in ihrer Ge- 
setzmäßigkeit als den eigentlich ästhetischen Kern zu erfassen sucht. 
Es ist ein Gegensatz, der die ästhetische Theorie des ganzen neun- 
zehnten Jahrhunderts beherrscht hat, nachdem Hegel und sein großer 
Schüler Fr. Th. Vischer im Ideengehalt des Kunstwerks, allerdings 
auch dabei auf Kant fußend, die ästhetische Grundfunktion entdeckt 
zu haben glaubten. Heute darf gesagt werden, daß die Sachlage in 
der Ästhetik so weit geklärt ist, daß mit einer Korrelation zwischen 
Gehalt und Gestalt das erlösende Wort gesprochen worden ist. Weder 
in der Gestalt allein, noch im bloßen Ideengehalt läßt sich das Ästhe- 
tische erschöpfen, sondern immer besteht es in der unauflösbaren Ver- 
knüpfung beider. Weder die Farbe allein noch die Zeichnung für 
sich charakterisieren das Schöne am Gemälde, sondern stets ist es die 
Wechselwirkung beider. Die Farbe in einem Gemälde, der Ton in 
einer Melodie haben keine bloß dienende Stellung zum Ganzen des 
Kunstwerks. Gerade in der Gegenwart bedeutet die Freude an der 
Farbe, am Tonhaften in der Musik, eine allgemeine Verschiebung des 
Geschmacks von den Gestaltwerten zu den Gehaltwerten. Mag dabei 
das besondere funktionelle Verhältnis zwischen Gestalt und Gehalt 
mit den historischen Bedingungen, dem Zeitgeschmack, wechseln, so 
gehört doch die Dynamik überhaupt zwischen den beiden Komponen- 
ten zu den überzeitlichen Bedingungen des Kunstwerks und gerade 
um diese dynamische Funktion ringt auch Kant, wenn er, wie wir 
nachher sehen werden, die allgemeinen Bedingungen für den Inhalt 
des schönen Gegenstandes zu fixieren sucht. 
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