N. 6. Kant hat der formalen Seite des schönen Gegenstandes eine wei-
h- tere bedeutsame Bestimmung abgewonnen, indem er ihn vom teleolo-
ut gisch betrachteten Naturgegenstande abgrenzt. Wohl ist der schöne
nt Gegenstand auch zweckmäßig, aber es ist eine Zweckmäßigkeit ohne
N. Zweck, d.h. er ist sich stets Selbstzweck. Da jeder Zweck mit den
iS Mitteln, die zu seiner Verwirklichung notwendig sind, eine organische
1e Ganzheit bildet, so trägt mit dieser zweckhaften Struktur Kant in den
n, ästhetischen Gegenstand diese eigentümliche Ganzheit und Geschlos-
e- senheit hinein. Das Kunstwerk ist analog dem Zweck eine Ganzheit,
er in der jedes Glied auf sie bezogen ist, jedes Glied nur kraft ihrer zu-
a sammengreifenden Funktion besteht. Die Ganzheit ist vor ihren Glie-
dern; jedes Glied hat seine bestimmte eindeutige Stelle, und es wirkt
ff nur von dieser Stelle aus. Die Bildsäule besteht zwar aus Marmor-
Be teilen, aber sie ist nicht die Summe dieser Teile; erst das einzigartige
on Ineinander der Teile, das jeden Teil zum Gliede des Ganzen macht,
E. so daß er zum Ausdruck des Ganzen notwendig beiträgt, macht das
x schöne Standbild aus. Das Ganze ist eine geschlossene Einheit, wo
Tr jedes Moment, die Beinstellung, der Faltenwurf, der Gesichtsaus-
zs druck gleichsam das Ganze mitrepräsentieren hilft. Die Zweckmäßig-
& keit ohne Zweck kann daher in den modernen Begriff der Komposi-
n tionseinheit übersetzt werden.
n 7. Die transzendentale Methode erreicht in der Theorie der Urteils-
x kraft ihre größte Vertiefung. Hier kommt es zu jener Art von Selbst-
betrachtung der Vernunft, die später das große Thema der Wissen-
schaftslehre Fichtes und der Logik Hegels bilden sollte. Um die all-
. gemeine Gültigkeit des ästhetischen Urteils zu begründen, beruft sich
SE Kant in mehrfachem Sinn auf die Struktur der Vernunft. Es findet
N eine Analyse der Vernunft durch die Vernunft statt, die das dem Ich
gegenüberstehende Objekt nicht als gegeben ansieht, sondern aus den
© Spannungen der inneren Kräfte der Vernunft abzuleiten sucht. Diese
Rn Spannungen sind bei Kant zugleich gegenstandbestimmend, sind zu-
5 gleich Normen für die gegenständliche Gestaltmöglichkeit des Wirk-
| lichen. Beim ästhetischen Gegenstande löst sich die Spannung zwi-
schen Begriff und Anschauung in der Weise aus, daß die „Erkenntnis-
2 kräfte‘“ sich bei der Bestimmung des Schönen „in einem freien Spiele“
befinden. Das ästhetische Urteil steht in Korrelation zur Harmonie der
Erkenntnisvermögen, indem „Einbildungskraft“ und Verstand „ein-
hellig‘“ sein müssen. Es ist bezeichnend für diese Analyse der Vernunft
aus der Vernunft heraus, daß der Anschauungsfaktor aus der bloßen
Gegebenheit, die er im theoretischen Erfahrungsgedanken besaß, her-
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