VORWORT
Jeder Stand, jeder Beruf, jede irgendwie abgrenzbare gesellschaft-
liche oder wirtschaftliche Gruppe hat in dem bis zur Undurchsichtig-
keit verwickelten Getriebe des modernen Kulturstaates ihr eigenes, fast
möchte man sagen, ihr persönliches Wertsystem. Die objektiven Le-
benswerte und ihre Ranggliederung sind in den einzelnen sozialen
Schichten praktisch so verschieden, daß Nietzsches Prophetenruf nach
der Umwertung aller Werte dieser theoretischen Frage nach den ob-
jektiv gültigen Lebenswerten in prägnanter Form einen weithin ge-
hörten Ausdruck verleihen konnte.
Diesem Zustande von subjektiv unter den Werten auswählenden
Lebensstimmungen gegenüber gilt es daher, sich immer wieder auf
die letzten objektiven Wertmaßstäbe des menschlichen Daseins zu
besinnen.
Die folgenden Blätter machen einen Versuch dieser Art, indem sie
zum Ausgangspunkte das System Kants wählen. Zum Ausgangspunkte
wird es in zwiefachem Sinne gemacht. In ihm wird die Begründung
für die Objektivität der Lebensmaßstäbe gesucht, und zugleich soll
an ihm deren geschlossene Einheit entfaltet werden. Diese Einheit
kann nicht die theoretisch-wissenschaftliche Einheit der formalen
Urteilsgesetzlichkeit sein, sondern als Werteinheit muß sie bewußt-
seinsmäßig sein. Sie bestimmt sich im Begriff des normativen Kultur-
bewußtseins. Sein überzeitlicher Gehalt ist daher im Hinblick auf
Kants System herauszustellen.
Kant darf infolgedessen unter den Bedingungen dieser Aufgabe-
stellung nicht in einer analysierenden Weise betrachtet werden, die
überall in das verwirrende, den Überblick über das Ganze leicht ver-
deckende Gezweig wissenschaftstheoretischen und historischen Durch-
suchens im einzelnen hineinsteigt. Sein System ist hier nicht zu be-
greifen als die geniale Analyse abstrakter theoretischer Prinzipien,
sondern es muß zu verstehen gesucht werden als die Entdeckung und
Begründung schöpferischen Kulturlebens. Die dem Leben zugewandte
Seite seines Systems ist darzustellen, soweit an ihr ein ewiger Gehalt
erkennbar ist, Den überzeitlichen Gehalt des Kulturbewußtseins aus
seinem System zu entwickeln, ist die hier gestellte Aufgabe. Dies er-
fordert, einen von den bisherigen Darstellungen abweichenden Ein-