Full text: Kant

sie kann deren Ziel nicht mit ihren eigenen Begriffsmitteln angeben. 
Die Zielrichtung vielmehr muß der Sphäre der moralischen Werte, 
der Kulturwerte entstammen, weil sie objektive Norm ist. Daher ist 
„das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung 
die Natur ihn zwingt, die Erreichung einer allgemein das Recht ver- 
waltenden bürgerlichen Gesellschaft“ (VIII, 22). Der Inhalt der Tä- 
tigkeit dieser idealen Gesellschaft aber ist genau der Kulturinhalt 
überhaupt, wie er durch die Kulturwerte fixiert wird. „Alle Cultur 
und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche 
Ordnung, sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst ge- 
nöthigt wird, sich zu disciplinieren und so durch abgedrungene Kunst 
die Keime der Natur vollständig zu entwickeln.“ (Ebenda.) 
Mag auch der Begriff der Naturanlage sich noch als naturwissen- 
schaftlich-biologischer rechtfertigen lassen, der der Naturanlage ist 
jedenfalls bereits ohne Kategorien der Kultur nicht bestimmbar. In 
der Tat tritt ja auch die Ungleichheit, die Kant im Sinne hat, vor- 
nehmlich auf geistigem Gebiete in die Erscheinung, während hinsicht- 
lich des Physischen gerade relative Gleichheit unter den Menschen 
besteht. So konstruiert also Kant den Geschichtsprozeß auf der Grund- 
lage einer Dynamik, die nach ihrer naturalistischen Funktion hin 
später von der positivistischen und soziologischen Theorie weiter aus- 
gesponnen worden ist, die aber in ihren Prinzipien ein ganz ähnliches 
Schillern zwischen Natur- und Kulturbegriffen aufzeigt. Das Fort- 
schreiten erhält daher als Ziel rein normative Bestimmungen aus dem 
Reiche der moralischen Welt. Es ist die Selbstbefreiung des Geistes, 
die in dem Höherhinauf dieser Dynamik lebt und ihr eine Richtung 
gibt, die zwar in steter Wechselbeziehung zum Naturgeschehen bleibt, 
aber aus diesem nicht ableitbar ist. Es ist der Geschichtsbegriff der 
metaphysisch unterbauten Geschichtsforschung am Anfang des neun- 
zehnten Jahrhunderts, der später durch das stärkere Eindringen posi- 
tivistisch-empirischer Methoden beträchtlich eingeschränkt wurde. 
Kant bestimmt also der Geschichte ein Ziel und damit ein Fort- 
schreiten; ein Ziel, das insofern dem Geschichtsforscher transzendent 
ist, als sie dieses Ziel einer „vollkommen gerechten bürgerlichen Ver- 
fassung‘“ niemals erreichen kann; ein Ziel, das ihr wiederum imma- 
nent ist, als es bei jedem Schritte diesen Prozeß mehr oder weniger 
leitend bestimmt. Daher läßt sich dieses Ziel aus den empirischen Tat- 
beständen immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ableiten. 
Es muß im theoretischen Sinne Hypothese bleiben... Die moderne Ge- 
schichtstheorie, z. B. bei Rickert, lehnt daher derartige Ziel- und Fort- 
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