Full text: Kant

Urteilsarten zu entwickeln gemäß dem Prinzip gegenständlicher Be- 
stimmtheit durch die allgemeine Urteilsfunktion, die Gegenstand und 
Ich in ein Wechselverhältnis setzt, bildet sie — und sie allein ist dazu 
fähig, wie es eine ihrer vornehmsten Aufgaben ist — den Begriff des 
logisch einheitlichen Systems der Wissenschaften und erweist so des- 
sen Möglichkeit. Diese logische Einheit aber ist eine rein formale; es 
ist daher nicht möglich, weder aus der Philosophie die einzelnen 
Wissenschaften abzuleiten, noch ist das Prinzip der Philosophie, das 
korrelative Verhältnis zwischen Ich und Gegenstand soweit mit In- 
haltsbeziehungen zur Wirklichkeit anfüllbar, daß es gestatten könnte, 
aus sich die prinzipiellen Gegenstandsarten, von denen die Wahrheit, 
die Sittlichkeit, das Religiöse und das Ästhetische angeführt wurden, 
im Sinne einer Deduktion von Besonderem aus dem Allgemeinen ab- 
leiten zu lassen. Die Nichtableitbarkeit dieser Ideen ist der in der 
Sprache des Logischen gefaßte Ausdruck dafür, daß sie unter dem 
Gesichtspunkte der wissenschaftlichen Methode keine verknüpfende 
Inhaltseinheit besitzen, vielmehr nur Repräsentanten der gegen sich 
fremden einzelnen Gegenstandsordnungen sind, die über sich nur die 
formale Einheit der Urteilsgesetzlichkeit haben. 
Dies Hindernis einer Zusammenschau der Ideen wirkt sich noch 
nach einer anderen Richtung aus; es ist ein Moment, das mit seiner 
Zerstückelung jeden Inhalt ergreift und die Trennung in das Gefüge 
selbst hineinträgt. Weil nämlich die logische Einheit der Wissen- 
schaften nur Prinzip ist, also die Einzelinhalte nur in dem Sinne ein- 
heitlich zusammenfaßt, daß sie Bestimmungsgesetz für sie zu sein, 
aber nicht ihr Erzeugungsgesetz zu bedeuten vermag, so können die 
Inhalte des Systems der Wissenschaften immer nur diskursiv erkannt 
werden. Nur schrittweise und in einer gewissen durch die Besonder- 
heit der Methode geforderten Isolierung gelingt es dem erkennenden 
Bewußtsein, sich die einzelnen Inhalte gegenwärtig zu machen, sie zu 
wissen. Nur die Möglichkeit der Beziehung zu anderen Inhalten bleibt 
dem wissenschaftlich denkenden Bewußtsein gegenwärtig, nicht aber 
vermag es die Gesamtheit dieser Beziehungen in einen Gegenwärtig- 
keitspunkt für die Bewußtheit zusammenzuziehen. Der psychologi- 
sche Tatbestand des Wissens um die Wissenschaft oder, kulturhisto- 
risch gesprochen, der geschichtliche jeweilige Bestand der Wissen: 
schaft vermag die Wissenschaft immer nur in einer relativen Zer- 
stücktheit und Unfertigkeit im Hinblick auf das Ideal kontinuier- 
licher Ganzheit darzustellen. Um eine Einheitsschau zu erreichen, be- 
darf es daher einer besonderen, jedoch mit universaler Weite ausge- 
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