gen. Weder der Gehalt der alten Metaphysik, noch die gestaltenden
Kräfte des Rationalismus und Sensualismus, noch die große Sicher-
heit der Methoden und Ergebnisse im damaligen Zustande der natur-
wissenschaftlichen Forschung können die zureichenden Quellen sein,
aus denen Kants Tiefe sich verstehen 1äßt. Hier bedarf es der Auf-
zeigung einer weiteren Geistesmacht im europäischen Kulturleben;
es ist eine Lebensenergie, die die seelischen Tiefen aufgewühlt hat und
ein ewig schöpferisches Prinzip im Geistesleben der Völker bedeutet.
Dies ist die Mystik, die uns hier in ihrer deutschen Gestalt interessiert.
Es hängt mit der lebendigen Innerlichkeit des deutschen Gemüts
zusammen, die in ihrer unrastigen Erlebnisfülle nach außen drängt
ins Reich des begrifflich Gegenständlichen sprachlicher Formung,
wenn der erste bedeutende Kopf in Deutschland, der die deutsche
Sprache lehrt, philosophische Gedanken auszudrücken, ein Mystiker
war. In Eckehart begegnen wir dem damals größten, innerlich am
freiesten vom kirchlich-regimentalen System fühlenden Genius, der in
sprachschöpferischer Gestalt seine Gotteserlebnisse fixiert. Die augu-
stinische Mystik der Augustiner-Chorherren von St. Victor bei Paris
mit ihrer Wendung zur Analyse des seelischen Lebens und das scho-
lastische System des Thomas Aquino sind die geistigen Hauptströme,
aus denen die Mystik des deutschen Mittelalters, ein Eckehart, ein
Tauler, Seuse und viele andere bis zu Nicolaus von Cusa hin schöpfen.
Die Mystik wird vielfach als ein Sondergebiet des religiösen Ver-
haltens in der Tatsache des Kulturlebens angesehen. Sofern man in-
dessen ihren Kern in der erlebnismäßig erstrebten Wesenseinheit von
empirischem Ich und dem ihm entsprechenden, auf die höchsten
Werte gesteigerten, ganzheitlich gefaßten Nichtich sieht, erweitert
sich in der mannigfaltigsten Weise der Begriff der unio mystica über
den Bereich des Religiösen hinaus, ohne freilich durch den Begriff
des höchsten Wertwesens jemals seine Beziehung zu ihm gänzlich zu
verlieren. Die mystische Vereinigung ist im Bewußtsein gegenwärtige
Einheit nicht nur zwischen Ich und Gott, sondern auch zwischen Ich
und Welt. Die Vereinigung mit der Welt kann ebenso wie die mit
Gott in der mannigfaltigsten Weise, unter Hervordrängen theoreti-
scher oder ethischer, ästhetischer oder rechtlicher Motive vollzogen
werden. Immerhin bildet die in der religiösen Mystik erlebte Vereini-
gung der Seele mit Gott als dem Inbegriff der höchsten Werte das
normative Strukturgebilde für alle weltliche, naturhafte wie ästhe-
tische Mystik.
Wie man auch diesen eigentümlichen Erlebnisvorgang begrifflich
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