Full text: Kant

5. Die Prinzipien der Gegenstandslogik 
1. Im Entwicklungsgang der menschlichen Erkenntnis offenbaren 
sich zwei Stilrichtungen von gegensätzlichem Gefüge, deren Motive 
in vielfachem Kampfe miteinander die Geschichte des Kulturbewußt- 
seins durchziehen. Der einzelne kann sich zu ihnen nur durch eine 
Wahl, wie bei allen letzten Entscheidungen des Verstandes, stellen, 
die bestimmt ist durch die jenseits desselben gelegenen instinktiven 
7 Kräfte der Gesamtpersönlichkeit. Man kann sie den intuitiv-meta- 
physischen und den diskursiv-wissenschaftlichen Trieb nennen; der 
” eine ist statisch und enthält vom Gefüge des Klassischen, der andere 
) trägt in seiner Dynamik die unruhigen Züge des Barock in sich. Es 
S wird immer eine statische und eine dynamische Auffassungsweise 
% des Erkenntnisbegriffes geben. Der eine drängt das Wissen um die 
G Welt in die Ganzheit eines Organismus zusammen, wo jedes Glied von 
© anderen getragen ist, eine harmonische Einheit und Abgeschlossenheit 
des Kosmos in Begriffen. Der Dichter, der religiöse Denker und My- 
stiker, der ausgesprochene Metaphysiker schaffen sich in dieser Form 
ihr Weltbild auf der Grundlage des Wissens der Zeit. Gewiß ist dies 
* immer nur ein erstrebtes und niemals erreichbares Ideal, dennoch 
N gibt es diese definitive, vollendete Gestalt des Wissens für das 
h metaphysisch denkende Bewußtsein, indem eine Art der Vermitt- 
a lung zwischen dem Intuitiven und Diskursiven im psychologischen 
V Begriff der „Gestalt“ möglich ist. Als Gestalt kann das Wissen 
a um die Welt in intuitiver Form einem empirischen Bewußtsein 
gegenwärtig sein, wie beim Anhören von Musik die Melodie als 
Gestalt dem Bewußtsein als Ganzes gegenwärtig sein muß, wenn 
man die einzelnen Töne als Glieder größerer Rhythmen verstehen 
will. Ist hier gleichsam der griechische Kreisbegriff das Symbol, 
so beim dynamischen Erkenntnisbegriff die gerade Linie als ein 
Gegenstand, der beliebig weit ins Unendliche fortsetzbar ist. Der 
Abschluß und die Vollkommenheit der Erkenntnis in wissenschaft- 
lichen Begriffen sind nicht bloß aus tatsächlichem Unvermögen un- 
möglich, sondern aus prinzipiellen Gründen der Struktur der Bedeu- 
tungsfunktion unseres Bewußtseins folgt, daß eine symmetrische Voll- 
endung und harmonische Ausrundung der Erkenntnis im wissen- 
schaftlichen Sinn mit ihrem Begriff in Widerspruch geraten würde. 
Die äußerste, zuweilen übertriebene Aufgipflung dieses Prozeßcharak- 
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