Full text: Das Weltbild der Gegenwart

172 Die Kultur 
schiedenen Nationen sind und diese schlechthin Indivi- 
dualitäten darstellen, würde eine Abschaffung der 
Nationalsprachen und ihre Ersetzung durch eine all- 
gemeine Weltsprache keinen Kulturgewinn darstellen. 
Ja, es läßt sich voraussagen, daß sie nach erfolgter Ein- 
führung sich wieder zu Nationalsprachen differenzieren 
würde. Immerhin würde für die einfachsten rein prak- 
tischen Zwecke des Lebens die Annahme einer international 
anerkannten Sprache sich sehr empfehlen. Ob man sich 
dabei auf eine Kunstsprache, etwa das Esperanto, oder 
aber eine lebende Sprache — es käme nur Französisch 
oder Englisch in Frage — einigen würde, wäre recht be- 
langlos. Frühere Zeiten kannten solche internationalen 
Sprachen, das Mittelalter das Lateinische, das 17. und 
18. Jahrhundert das Französische. Da der Weltkrieg mit 
einem yollen angelsächsischen Siege geendet hat, so ist 
damit die Weltsprachenfrage wohl im Sinne des Eng- 
lischen entschieden. Leibniz’ über das praktische Bedürfnis 
hinausgehendes Ideal einer allgemeinen lingua characte- 
ristica universalis muß daran scheitern, daß die Fülle des 
Auszudrückenden übergroß ist. Jedes Objekt, jede Seelen- 
bewegung, jeder Begriff müßte einen Lautrepräsentanten 
haben, und es ist ein Irrtum, zu glauben, daß sich alles 
aus einer relativ geringen Zahl von stets gleichbleibenden 
Elementen in nur verschiedenen Kombinationen aufbaut. 
Die Zahl der spezifischen. Faktoren in der Wirklichkeit ; 
ist übergroß. Um der Individualität der Seele der ver- \ 
schiedenen Völker gerecht zu werden, bedarf es der Fülle 
der Volkssprachen. Der seelische Habitus; der aus. einem 
breiten schwäbischen: Münde spricht, kann im Berliner 
Dialekt oder in. der Sprache von Anatole France schlecht- 
hin nicht zum Ausdruck kommen. 
Während wir über die Entstehung der Sprache nur
	        
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