200 Die Kultur
Menschen der mittleren Kultur können sich das Große,
Gewaltige noch nicht ohne Rücksichtslosigkeit, dahin-
fahrend wie ein Kriegsgewitter, denken. Gott ist nicht
mehr in erster Linie unheimlich für sie, sondern erhaben,
aber es ist eine Erhabenheit des Furchtbaren in ihm. Der
Kultus, der ihm zuteil wird, ist darum noch ein Kultus
der Opfer. Der Gewaltige verlangt solche.
Auf noch höherer Stufe tritt der Eindruck des un-
nahbar Erhabenen zurück gegenüber dem sittlichen
Ernst der Gottheit. Zwar wird ihr Walten nach wie vor
als rätselhaft und über alles Begreifen erhaben empfunden,
aber es besteht kein Zweifel mehr an ihrer Sittlichkeit.
Selbst wo menschlicher Vernunft der erschütternde Ge-
gensatz zwischen dem sittlichen Verlangen des Menschen-
herzens und dem wirklichen Verlauf unenthüllbar dunkel
bleibt, wird der Glaube an den sittlichen Charakter der
Gottheit doch nur vorübergehend erschüttert. An die
Stelle des Bewußtseins der einfachen Machtlosigkeit des
Menschen tritt das Gefühl der Ergebung und des Nicht-
eindringenkönnens in das Geheimnis von Gottes höherer
Vernunft. Die Voraussetzung ist dabei die Überzeugung
von der Persönlichkeit Gottes.
In dieser Weise ist die Entwicklung vor allem in
Palästina verlaufen. Hier gewinnt die Überzeugung
von der Existenz eines höchsten guten Gottes allgemein
die Oberhand. Bei aller Anerkennung der Tatsache, daß
Religion und Sittlichkeit nicht identisch sind, kann doch
eine Unabhängigkeit der Religion von der Sittlichkeit
höchstens für primitive Stufen der Religiosität diskutiert
werden. Auf höherer Stufe ist die Religion an das Sitt-
liche gebunden. Gott wird allmählich zum allguten, dem
sittlich vollkommenen Wesen. Im Christentum, dieser
weltgeschichtlichen Fortsetzung und Vollendung des Ju-