210 Die Kultur
Sie sind in den ältesten Gesetzen, nicht nur denen des
Orients, sondern auch der Mittelmeersphäre, von großer
Härte, wie uns eine solche auch noch in Platos „Staat“
überrascht. Mit dem Fortschreiten der allgemeinen
Kultur wurden sie milder, um im Mittelalter sich wieder
zu verschärfen, teilweise bis zu unerhörter Grausamkeit.
In der Neuzeit wiederholt sich der Prozeß der Milderung
zum zweitenmal. Er spiegelt von neuem die Verfeinerung
des allgemeinen Gefühls.
Der wichtigste Schritt in der Geschichte der Sittlich-
keit ist ohne Zweifel die von Jesus heraufgeführte
grundsätzliche Gleichstellung aller Menschen als Brüder
und Schwestern, weil Kinder des gemeinsamen Gottes,
gewesen. Mit größerer Konsequenz und Entschlossenheit
als irgendein antiker Denker machte das junge Christen-
tum ernst mit der metaphysischen Gleichwertung
aller Menschenseelen. Völlig neu war diese Tendenz
freilich nicht. Durch die gleichzeitige griechisch-römische
Sittlichkeit geht eine ähnliche Tendenz, die auch im
Sklaven den Menschen sieht. Es ist nicht richtig, wenn die
ganze antike Welt.als liebeleer bezeichnet worden ist. Der 4
Humanitätsgedanke hatte schon mächtige Wurzeln ge-
schlagen. Und man vergesse nicht, daß noch heute die ;
weiße Rasse die farbigen nicht auf eine Stufe neben sich
stellen lassen will und auch dem einzelnen Individuum
gegenüber dort, wo die farbigen Menschen in größerer
Zahl vorhanden sind, keine Ausnahme macht. Und doch
ist insofern ein Fortschritt da, als wohl schwerlich noch
ernstlich bestritten werden wird, daß jedes Individuum im
Grunde Anspruch hat, nach seinen eigenen Qualitäten
gewertet und behandelt zu werden, nicht auf Grund der
Eigenschaften anderer, ihm irgendwie physisch ähnlicher
Menschen (vgl. auch Kapitel XVII).