218 Die Kultur
weite empfänden. Es hat noch keinen Historienmaler
gegeben, der Shakespeares dramatischen Leistungen auf
malerischem Gebiet nahekäme.
Die Bedeutung des Individuums reicht aber noch
weiter. Sie geht so weit, daß selbst beim Versuch ge-
treuester Naturwiedergabe verschiedene Künstler ganz
verschiedene Werke zustande bringen. Gustav Richter
erzählt, wie er einst in seinen römischen Tagen mit meh-
reren Genossen einen solchen Versuch gemacht habe, und
jeder von ihnen etwas ganz anderes zustande brachte,
trotz des Bemühens, nichts als eine reine Naturkopie zu
schaffen.
Es liegt im Wesen des Verhältnisses des Menschen
zur Welt begründet, daß kein Künstler nur das Objekt
zu geben vermag, ohne zugleich sich selbst oder einen Teil
seiner selbst mit hineinzugeben. Denn es gibt überhaupt
keine Welt von Objekten als Inhalt unseres Bewußtseins,
die unabhängig von uns wäre. Was wir als Welt erleben,
ist mindestens zu einem Teil durch uns selbst bedingt.
Wenn ein Künstler noch so getreu darstellt, was er mit
vollem Gefühl wahrnimmt, so ist es eben doch das, was
er mit seinen Sinnen und mit seinem Gemüte wahrnimmt
und darum verschieden von dem Weltbild anderer. Er
drückt sich in allen seinen Leistungen selbst mit aus, ob
er es nun weiß oder nicht weiß oder es sogar leugnet.
(Insoweit ist der Expressionismus im Recht.) Der Rea-
lismus war auch nur eine Form des Subjektivismus und
des Idealisierens.
Die Abhängigkeit der Kunst von „außerästhetischen“
Faktoren und der Psyche des Schaffenden hat zur Folge,
daß sie als einziges Kulturgebiet unbestritten sich nach Völ-
kern differenzieren darf. Die wissenschaftliche Erkenntnis
ist übernational, denn es gibt nur eine Wahrheit. Es gibt