Full text: Einleitung in die Philosophie der Mythologie (2. Abtheilung, 1. Band)

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hervorgehen konnte, Alles Instinktartige wirkt ohnehin mehr in der 
Masse als in einzelnen, und wie in gewisse Familien des Thierreichs 
ein gemeinschaftlicher Kunsttrieb voneinander unabhängige Individuen 
zur Hervorbringung eines gemeinsamen Kunstwerks verbindet, so erzeugt 
sich auch zwischen verschiedenen, aber zu demselben Volk *gehörigen Indi- 
viduen von selbst und wie durc< innere Nothwendigkeit ein geistiger Zu- 
sammenhang, der sich in einem gemeinschaftlihen Erzeugniß wie die 
Mythologie offenbaren muß. Za es scheint dieses geistige Zusammen- 
wirken sich noch über die Zeit der ersten Entstehung ver Mythologie 
hinaus erstreckt zu haben. Wolfs Untersuchungen über den Homer, 
etwas geistreicher aufgefaßt, als es von seinen Zeitgenossen geschehen, 
boten längst eine große und bedeutende Analogie dar. Ist die Ilias, 
und: sind Ilias und Odyssee nicht das Werk eines Individuums, sondern 
eines ganzen über mehr als ein Zeitalter sich ausdehnenden Geschlechts, 
so muß man wenigstens gestehen, dieses Geschle<ht hat wie ein Indi- 
viduum gedichtet. 
Man erkennt allgemein und als natürliches Erzeugniß mit beson- 
derer Gunst eine Volkspoesie an, die älter ist, als alle Dichtkunst, 
und neben dieser noch immer besteht, in Sagen, Märchen, Liedern, 
deren Ursprung niemand zu nennen weiß; ebenso eine natürliche Welt- 
weisheit, die durch Vorfälle des gemeinen Lebens oder heitere Gesellig- 
keit erregt, immer neue Sprüchwörter , Räthsel, Gleichnißreden erfindet. 
So vermöge eines Zneinanderwirkens von natürlicher Poesie und natür- 
licher Philosophie, nicht vorbedachter und absichtlicher Weise, sondern 
ohne Reflexion, im Leben selbst, schafft sich das Volk jene höheren Ge- 
stalten, deren es bedarf, um die Leere seines Gemüths und seiner 
Phantasie auszufüllen , durch die es - sich selbst auf - eine höhere Stufe 
gehoben fühlt, die ihm rückwirkend sein eigenes Leben veredeln und ver- 
schönern , und die einerseits von ebenso tiefer Naturbedeutung“- als von 
der „andern Seite poetisch. sind. . 
' Und gewiß, gäbe es keine Wahl als zwischen einzelnen und dem 
Volk, wer würde zumal heutzütage lange Bedenken tragen, wofür er 
si<h ausspräche? Aber je scheinbarer - die Vorstellung, desto genauer
	        
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