Full text: Die Kunst der Gotik (7)

nicht aus der Geistesresignation des romanischen Mathematikers erlebt. Viel- 
leicht ist es nur eine flüchtige Weile, für die das Mittelalter zu solch un- 
geahntem Heroismus eines Bekenntnisses zur besten Welt aufsteigt, aber der 
Moment entscheidet. Denn in diesem Augenblick sagt sich Europa innerlich 
vom Osten los und wagt, der Antike die Gefolgschaft zu kündigen. Nun 
vermag man Antike und Osten ‚historisch‘ zu betrachten — ja eines Tages 
wird man sie historisch wieder erstehen lassen: die Renaissance. Auf daß 
das große Sentiment des Historischen neues Pathos gebäre — den Pessimis- 
mus des Barock. 
Die Perspektive ist notwendig, wenn anders Sinn und Ende gotischer Welt- 
anschauung begriffen werden soll. Nicht um Askese und Mystik geht es zuerst 
— Mittel sind sie und Erscheinungen, nicht Festen und Enden. Trotz Bernhard 
von Clairvaux, des an der Wende zweier Weltgeschichtsepochen Stehenden — 
er mag etwa als der Asket mit dem drohenden Unterton des „spernere mun- 
dum““ gelten, obwohl seine Tat schöpferisch in die gotische Welt hineinragt 
wie eine Kathedrale. Trotz Eckehart, dem Meister, bei dem uralte Natur- 
versunkenheit wie barbarisches Erbgut aus den Tagen des Schotten Erigena 
wort- und formlos zu höchster Gespanntheit wieder einmal in der Geschichte 
des mittleren Europa auflodert; er ist der Mystiker nicht allein der Gotik, 
sondern des Mittelalters schlechthin. Und endlich — trotz Luther, des von 
Augustinus Kommenden und augustinisches Urchristentum Beschwörenden — 
in der Gesamtlinie des Gotischen sind sie wie alle Umgestalter der Macht, des 
Rechts und der sozialen Lehre Begleiterscheinungen, nicht Führer, nicht Über- 
winder. Denn dem „spernere mundum“ steht als die unendlich höhere Potenz 
das „spernere se sperni‘“ gegenüber, der Verachtung als der stets höher 
gewußte ethische Faktor die Überwindung — Franz von Assisi und die 
Wiedergeburt der sozialen Idee als eines sittlichen Bewußtseinszustandes freier 
Menschen, nicht Bindung, nicht seelische Not und Bedrängnis. In der Lehre 
des Thomas türmte sich die Krönungskathedrale mittelalterlichen Geistes auf; 
mit dem Leben des Franziskus beginnt die Lösung des Mittelalters und das 
Menschenalter einer Neuzeit. 
Die Kirche, in der Lehrmeinung unerbittlich, hat in ihren großen Zeiten — 
und dazu wird das dreizehnte Jahrhundert mit Vorzug gerechnet werden 
dürfen — in Fragen der Lebensmeinung die denkbar größte Freiheit ge- 
kannt. Denn die Vielheit der heterogensten Vorstellungen blieb gebunden durch 
die Einmaligkeit der sittlichen Idee, die noch ganz soziale, noch nicht, wie 
nach der Gegenreformation, absolutistische Gegebenheit war. Das Abendland 
im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert kennt keine Gegensätzlichkeit 
von Glaube und Welt, von Geist und Natur, und zwar nicht, weil die Kirche 
solches verhindern konnte, sondern weil solche Gegensätzlichkeit als Welt- 
gefühl — um Individuen geht es hier nicht — im Wissen der Völker nicht war. 
Weil die Gleichberechtigung von Geistigem und Natürlichem erst Gefühlstat- 
sache werden mußte, ehe ein nach dem Naturgemäßen orientierter Monismus 
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