Full text: Die Kunst der Gotik (7)

wirklich werden konnte. In der Tat geht ja kaum eine der mittelalterlichen 
Sektenbewegungen darauf aus, das Christentum als solches zu negieren; die 
Gegnerschaft zur gemeinsamen Weltanschauung wird nicht zuerst im Gebiet 
der Lebens-, vielmehr der Lehrmeinungen zündend. Aus der Freiheit der 
Lebensmeinung erwächst der Blütentraum gotischer Kunst. 
Man rühmt ihre Einheit, man beugt sich vor der Kraft ihres Ausdrucks. 
Einheit und Kraft einer unzersplitterten Lebensform. Einfach im Wesen ihrer 
Struktur, d. h. nach klaren Dominanten gerichtet, gleich den Grundakkorden 
der Monumentalbauten im vielverästeten Straßengeäder einer mittelalterlichen 
Stadt, im vielverwirrten Abhängigkeitsverhältnis einer mittelalterlichen 
Institution. Ein bekanntes Symbol dieses großen Organismus sei zu nennen 
erlaubt: die spezifische Form des abendländischen Staatsgedankens im Mittel- 
alter, das Lehen. Die Grundbegriffe lauten: Christus und die Welt — der (im 
Begriff) ewige Lehensherr hier jenseits der Zeiten, dort die zeitweiligen Lehens- 
empfänger. Alle Gewalt ruht zuletzt im geistigen Prinzip. Und so wird auch 
dem Letzten, Kleinsten, Rechtlosesten — und wer wäre rechtloser als der 
Hörige des Mittelalters — schließlich doch das gemeinsame Gleichnis von der 
Vergänglichkeit aller Macht Schutz und Waffe. Immer wieder wird just ihm 
solches verkündet im gemeinsamen Ausdruck gotischer Zeit, in der die Massen 
fesselnden Gewalt der Rede. Der gotischen Predigt kommt Kraft und Reiz zu 
in einem Umfange, den man heute sich kaum noch klarmachen kann, es sei 
denn inmitten südlicher oder östlicher Völker. In der Wirksamkeit der Wander- 
orden, der Volksapostel christlicher und antichristlicher Observanz, erreicht sie 
den Höhepunkt ihrer abendländischen Geltung. Das gesprochene Wort, um- 
rahmt hier von den kühnen Hallen der Predigerkirchen — den Pionieren 
gotischer Bauform in Deutschland, Italien, den Randländern —, begleitet von 
den Epen der Wandbilder, in denen die Grundwurzel spätmittelalterlicher 
Bildvorstellung heranwächst, umschlossen dort von der Waldeinsamkeit ab- 
gelegener Schluchten, wo mystische Schwärmer von einem neuen Urchristen- 
tum predigen, oder umwogt vom Brandrauch des Aufruhrs der Gassen, wo die 
laute Gewalt der Rechtlosen nach der Freiheit des Christenmenschen schreit: 
es wird das eigentlichste Ausdrucksmittel gemeinsamer Ideen. Wird Bindung 
und Versöhnung zwischen der Gegensätzlichkeit sozialer Strukturen voller 
Stufen und Kasten. Und so ist in aller Lebensform eines erkennbar: der Aus- 
druck des unmittelbaren Lebens bestimmt, nicht die Ratio einer isolierten 
Vernunft, 
Gotik als Prinzip einer künstlerischen Form bedeutet — wie schon gesagt — 
die Loslösung des Abendlandes von Byzanz. Wann und wo diese Loslösung 
sich zuerst vollzieht, auf welche Weiten Europas die Loslösung wirklich voll- 
zogen wird, all das wird bestimmend für die besondere Farbe des Ansehens 
innerhalb der Gesamterscheinung, die man ‚„gotisch‘‘ zu nennen überein- 
gekommen ist. Ein positives Kriterium für diese Erscheinung aufzustellen, 
ist ebenso schwer wie fast aussichtslos, wenn man an der Totalität gotischen 
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