Geschehens streng festhalten will. Die negative Abgrenzung, daß das Gotische
da erkennbar werde, wo das Byzantinische nicht mehr wirksam ist, sagt
also zunächst nicht mehr als gewissermaßen eine Umschreibung des chrono-
logischen Tatbestandes. Denn man wird sich unwillkürlich erinnern, daß
der Untergang des Byzantinischen in Europa weder zu einer Zeit noch gleich-
mäßig an allen Orten erfolgt; man wird sich erinnern, daß das frühmittelalter-
liche Weltideal, dessen klassische Form mit dem Wort Byzanz gleichzustellen
hier versucht wird, bei den europäischen Völkerschaften von durchaus un-
gleicher Wirkungsdauer besteht, daß also das Verhältnis der einzelnen Völker
zu diesem Ideal eine Verschiedenheit der Veranlagung zu dieser — im Ver-
laufe des ersten Jahrtausends inter nationes geltenden — Macht bestimmter
Ideen in sich schließt.
Es wird notwendig sein, als erste Frage festzustellen, welche Völkerschaften,
weltgeschichtlich betrachtet, in dem gotischen Europa vorhanden sind. Aus
deren jeweiligem Verhältnis zum Gotischen könnte sich erst als zweite Frage
ermitteln lassen, welches etwa das Wesensgemeinsame gotischer Ideen sein
möchte. Und nur dann, von der Untersuchung der Geltung des Gotischen
bei allen europäischen Völkern ausgehend, wird sich eine zureichende Be-
rechtigung ergeben, nach dem Anteil der Nationen — als dritte Frage —
sich umzusehen.
Die erste Frage — nach den Völkerschaften — ist in diesem Sinne und
in diesem Zusammenhang ein Problem der Geistesgeschichte und wird
darum in deren Bereich gesucht werden müssen. Denn keine naturwissen-
schaftliche Erklärung von Rassen und Rasseneigenschaften wird je in der
Lage sein, auch nur einen kleinen Bruchteil dessen, was geistesgeschichtlich
in der Sprache, im Recht, im Ideal eines Volkes vorhanden ist, zureichend
zu begründen.
Die Geschichte der ersten Jahrhunderte des zweiten Jahrtausends kennt vier
Völkerschaften von ganz bestimmter Prägung — im Sinne der vorgenannten
Komponenten: Sprache, Recht, Ideal — als die wesentlichen Träger euro-
päischen Geschehens. Es sind die Romanen, die Gallier, die Normannen, die
Deutschen. Das heißt: es sind in diesem Zeitpunkt nicht nur — wie vielfach
behauptet — die Romanen hier, die Germanen dort. Die Völkerfamilie der
Germanen war, als die Gotik einsetzte, längst innerhalb eines fast ein Jahr-
tausend währenden Assimilierungsprozesses so sehr geteilt und differenziert
worden, daß sie so wenig für diese Zeit einen geschichtlich allein wirksamen
Faktor — im Sinne einer Stammesgeschichte — darstellt wie etwa die Kelten.
Man braucht daraufhin nur die Geschichte der Länder, wo Kelten oder Ger-
manen stammlich rein erhalten waren im zwölften bis vierzehnten Jahrhundert,
nachzuprüfen, es dürfte nicht gelingen, etwa Skandinavien oder der Bretagne
oder Irland einen irgendwie erheblichen Anteil an der Weltgeschichte dieser
Zeit zuzuschreiben, verglichen mit der Geschichte der Deutschen, der Gallier,
der Normannen.
II