Full text: Die Kunst der Gotik (7)

So sehr sich in jeder der vier Völkerschaften im Verlaufe des hohen Mittel- 
alters mehr und mehr das eigene geschichtliche — das völkische — Gesicht aus- 
prägt, so wenig weiß eine derselben sich als stammliche Einheit. Es ist vielmehr 
zunächst und zuerst Einheit der Sprache, nach der der Chronist der Zeit unter- 
scheidet: die Lingua Tedesca bestimmt für den Romanen im Süden, der sich 
durchaus eines Volkes fühlt, ob er in Mailand, in Toulouse oder in Burgos lebt, 
den Begriff des Deutschen, die Lingua Gallica den Franzosen. Und die Völker- 
schaftsgegensätze zwischen diesen letzteren und den Anglonormannen sind 
nicht geringer als die zwischen Deutschen und Romanen; der Kampf des 
gallischen Franzien mit dem normannischen England ist beizeiten reicher an 
Blut und Haß als der zwischen Deutschen und Welschen. 
Betrachtet man diese Völkerschaften auf ihre geistige Zusammensetzung hin 
in Rücksicht auf ihr Verhältnis zu vergangenen Kulturen, so werden zunächst 
die Romanen als das reinste Erbvolk, die Normannen als das reinste Neuvolk 
erscheinen. Aber auch bei ihnen ist, wie die Sprache lehrt, Erbe und Eigentum 
relativ. Wohl steht das Romanische dem Lateinischen noch im dreizehnten 
Jahrhundert so nahe, daß es fast jedem Romanen möglich ist, der lateinischen 
Liturgie ohne Voraussetzung besonderer Bildung zu folgen; daß der Provenzale 
den Lombarden leichter versteht als den Nordfranzosen. Aber auch hier, inner- 
halb der verhältnismäßig reinsten Sprachgemeinschaft, ist die Wirksamkeit der 
Dialekte das eigentliche Wesen — der eigene Stil. Zwar ist längst Konsolidie- 
rung der Völker eingetreten. Spracheinheit hat — und auch nur relativ — eine 
einzige Völkerschaft, die gallische, in den ersten Jahrhunderten des zweiten 
Jahrtausends erreicht. Der Niederdeutsche an der Schelde oder Weser ver- 
ständigte sich auf ostelbischen Märkten im dreizehnten und noch im vierzehn- 
ten Jahrhundert leichter mit normannischen Leuten von jenseits des Kanals 
als mit seinen aus Oberdeutschland ins Ostland übergesiedelten Stammes- 
genossen. Die Völkergemeinschaften bestehen demnach auch sprachlich mehr 
als ideale, denn als wirkliche Verbände; die Stilformen in ihrer Besonderheit 
nicht weniger. 
Als größere Einheiten kennzeichnen sich Erbe und Eigentum, Besonderes 
und Gemeinsames, in der Rechtsauffassung. Der Königs- und Lehensstaat ist 
den Normannen, Galliern, Deutschen ebenso eigentümlich, wie er den Romanen 
im Grunde aufgezwungen bleibt; die Kommunen der Lombardei und in Süd- 
frankreich sind die stärksten Wächter antikischer Urbanität. Die Rechts- 
verfassung der deutschen Reichsstadt hat auch in ihren machtvollsten Trägern 
wie Köln nie das Maß weltbürgerlicher Freiheit erreicht, das die kleinste Kom- 
mune der Lombardei im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts errang. Die 
Autonomie der englischen Vasallen ist nicht aus weltbürgerlicher Geneigtheit, 
vielmehr aus echt nordischem Willensungestüm geboren worden; der Begriff 
des Tyrannen, wie ihn das Mittelalter versteht (des Usurpators im Gegensatz 
zum christlichen Ideal der im König gewollten „summa potestatis‘‘), wurde 
maßgebend in der Lombardei formuliert. Es ist die besondere, aus der Mentalität 
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