Full text: Die Kunst der Gotik (7)

Das ist wichtig. Daß der schönen Form einer — dem Wesen des Mittelalter- 
lichen — entgegengesetzten Welt mit so hohem Freimut begegnet werden 
durfte, wie das im Dugento geschah, blieb höchster Gewinn. Daß die Be- 
gegnung zum Sieg der mittelalterlichen Geistigkeit führte — führen mußte, 
indem die antike Form gleichsam zur Angel ward, um aus dem Meer des Un- 
endlichen neuen Reichtum zu heben, ist des Abendlandes großes Schicksal. ' 
Denn damit ward die letzte Schwelle abendländischer Kultur gelegt. D 
Die Formgeschichte der gotischen Plastik an sich wird von dem Punkte u 
herzuleiten sein, in dem das spätromanische Figurenideal — wie es in Chartres N 
oder der Reimser Verkündigung vollendet vor Augen steht — seiner Körper- ; 
lichkeit entkleidet, sich anschickt, der tektonischen Ordnung gotischer Archi- 
tektur bis ins letzte zu folgen. Das geschieht im Westen in den ersten Jahr- 
zehnten des dreizehnten Jahrhunderts. Das heißt: man wird daran festhalten ! 
müssen, daß das Problem der gotischen Bildnerei erst einsetzt, nachdem die 7 
Architektur schon an der Schwelle der Hochstufe stand. Es sind die ersten ö 
Jahrzehnte des dreizehnten Jahrhunderts, innerhalb der die entscheidenden * 
Werke des neuen Stiles entstehen: an den Westportalen der Notre-Dame zu ] 
Paris, in Amiens, in Reims. ) 
Durch das ganze erste Viertel des neuen Jahrhunderts waltet die strenge 
Verschlossenheit der romanischen Form weiter; in Chartres, das mit dem Typ w 
der Madonna vom nördlichen Querschiffportal (um 1215) im Mittelpunkt des 
zeitgemäßen bildnerischen Ausdruckes steht, trennt nur der unendlich höhere ; 
Gehalt schaubar werdenden inneren Lebens die Figuren von den Säulen- ; 
statuen der älteren Generation. Der neue Stil erscheint im Plastischen wie 
innerhalb der Ornamentik sozusagen über Nacht; wie Agleiblatt und Wein- ' 
ranke den antikischen Akanthus gleichsam im Schlummer überdecken, so wird 
die neue bildnerische Form zu spontaner Wirklichkeit. Der entscheidende ) 
Wandel vollzieht sich unbewußt. Nicht anders als innerhalb der Ordnung des a 
Architektonischen der Raum von Laon den gotischen Gedanken in sich trägt, 
erfüllt sich das Denkgesetz des Gotischen in der Figur: eine stürmische Not- 
wendigkeit, die ein Ziel, nicht einen Weg kennt. 
Für die Geschichte der bildnerischen Gesinnung ist folgendes bedeutsam. 
Der Bildner übernimmt eine zwiefache Aufgabe: die monumentale Figur und 
die — vom Heiligenschrein her — monumentalisierte Idee des Epitaphs. Die \ 
Fülle atmenden Lebens gehört — für die nächsten Generationen — dem monu- 
mentalen Bildwerk, und das Antlitz des Verstorbenen im Steindenkmal (als ; 
Gesamterscheinung betrachtet) lebt allein von seiner Sonne. Gleich den Figuren A 
der Kathedralplastik dienen die Epitaphgestalten des dreizehnten Jahrhunderts 7 
dem lachenden Leben; nicht Erinnerung an die Träger des Epitaphiums zu- L 
erst, vielmehr über ihre Einmaligkeit hinaus Gleichnis einer stärkeren Ewigkeit © 
gegenüber dem flüchtigen Faktum des Todes, dem kein Recht gegeben ist. e 
Ihm wird nicht Macht zugestanden innerhalb solcher Welt. Sein Schatten ) 
scheint gebannt im sieghaften Antlitz der heiter türmenden, der heiter kämp- 
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