Das ist wichtig. Daß der schönen Form einer — dem Wesen des Mittelalter-
lichen — entgegengesetzten Welt mit so hohem Freimut begegnet werden
durfte, wie das im Dugento geschah, blieb höchster Gewinn. Daß die Be-
gegnung zum Sieg der mittelalterlichen Geistigkeit führte — führen mußte,
indem die antike Form gleichsam zur Angel ward, um aus dem Meer des Un-
endlichen neuen Reichtum zu heben, ist des Abendlandes großes Schicksal. '
Denn damit ward die letzte Schwelle abendländischer Kultur gelegt. D
Die Formgeschichte der gotischen Plastik an sich wird von dem Punkte u
herzuleiten sein, in dem das spätromanische Figurenideal — wie es in Chartres N
oder der Reimser Verkündigung vollendet vor Augen steht — seiner Körper- ;
lichkeit entkleidet, sich anschickt, der tektonischen Ordnung gotischer Archi-
tektur bis ins letzte zu folgen. Das geschieht im Westen in den ersten Jahr-
zehnten des dreizehnten Jahrhunderts. Das heißt: man wird daran festhalten !
müssen, daß das Problem der gotischen Bildnerei erst einsetzt, nachdem die 7
Architektur schon an der Schwelle der Hochstufe stand. Es sind die ersten ö
Jahrzehnte des dreizehnten Jahrhunderts, innerhalb der die entscheidenden *
Werke des neuen Stiles entstehen: an den Westportalen der Notre-Dame zu ]
Paris, in Amiens, in Reims. )
Durch das ganze erste Viertel des neuen Jahrhunderts waltet die strenge
Verschlossenheit der romanischen Form weiter; in Chartres, das mit dem Typ w
der Madonna vom nördlichen Querschiffportal (um 1215) im Mittelpunkt des
zeitgemäßen bildnerischen Ausdruckes steht, trennt nur der unendlich höhere ;
Gehalt schaubar werdenden inneren Lebens die Figuren von den Säulen- ;
statuen der älteren Generation. Der neue Stil erscheint im Plastischen wie
innerhalb der Ornamentik sozusagen über Nacht; wie Agleiblatt und Wein- '
ranke den antikischen Akanthus gleichsam im Schlummer überdecken, so wird
die neue bildnerische Form zu spontaner Wirklichkeit. Der entscheidende )
Wandel vollzieht sich unbewußt. Nicht anders als innerhalb der Ordnung des a
Architektonischen der Raum von Laon den gotischen Gedanken in sich trägt,
erfüllt sich das Denkgesetz des Gotischen in der Figur: eine stürmische Not-
wendigkeit, die ein Ziel, nicht einen Weg kennt.
Für die Geschichte der bildnerischen Gesinnung ist folgendes bedeutsam.
Der Bildner übernimmt eine zwiefache Aufgabe: die monumentale Figur und
die — vom Heiligenschrein her — monumentalisierte Idee des Epitaphs. Die \
Fülle atmenden Lebens gehört — für die nächsten Generationen — dem monu-
mentalen Bildwerk, und das Antlitz des Verstorbenen im Steindenkmal (als ;
Gesamterscheinung betrachtet) lebt allein von seiner Sonne. Gleich den Figuren A
der Kathedralplastik dienen die Epitaphgestalten des dreizehnten Jahrhunderts 7
dem lachenden Leben; nicht Erinnerung an die Träger des Epitaphiums zu- L
erst, vielmehr über ihre Einmaligkeit hinaus Gleichnis einer stärkeren Ewigkeit ©
gegenüber dem flüchtigen Faktum des Todes, dem kein Recht gegeben ist. e
Ihm wird nicht Macht zugestanden innerhalb solcher Welt. Sein Schatten )
scheint gebannt im sieghaften Antlitz der heiter türmenden, der heiter kämp-
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