Full text: Die Kunst der Gotik (7)

fenden, der heiter andächtigen Geschlechter. In der Sonne einer thomistischen 
Weltverklärtheit scheint die Nacht für alle Zeiten überwunden, das Böse ist 
wahrhaft nicht seiend, denn es ist — gleich dem Häßlichen — nur ein minderes 
Sein. Das Irdische hat höchsten Sinn — als Gleichnis. 
Es ist notwendig — dem Gang der Dinge vorgreifend —, sich das Kehrbild 
dieser Gesinnung vor Augen zu halten: das nordische vierzehnte Jahrhundert. 
Dem Idealisten Thomas steht auf dem Kölner Stuhl der große Realist der Zeit 
und Mystiker Albertus gegenüber; irgendwo in Deutschland — in Augsburg — 
taucht an der Schwelle des vierzehnten Jahrhunderts das Totenantlitz eines 
Menschen auf im Grabmal des Wolfhart von Rot (Abb. 448). Nicht allein — 
voran gehen die mit dem Fluch der Erde beladenen Propheten zu Straßburg 
(Abb. 425) und ihr Geschlecht, dessen Lachen nicht klingt und dessen Schön- 
3 heit nicht Glaube. Da schwirren gleichsam die Peitschen der Geißler — der 
e nordische Mensch zeigt sein Haupt voll Blut und Wunden. Diesem Menschen 
2 ist das Ewige nicht mehr einmalige und darum allemalige Gnade in dem be- 
a gnadeten Leib des Gebildes und darum das Sinnbild höchster irdischer Schön- 
a heit, notwendiger Spiegel des Denkens — das Ewige ist fortan nur mehr meß- 
bar an dem Grade eigenen Ungenügens. Es gilt es zu schauen, um des Men- 
schen willen. Leid muß um den Menschen geschehen, er muß sterben, daß er 
werde. Die Menschen dieser Welt, des nordischen vierzehnten Jahrhunderts, 
zogen aus, ein ewiges Reich zu suchen; sie fanden — die Wirklichkeit. Dem 
heiteren Antlitz der Idealisten des dreizehnten setzen sie ein rührendes gegen- 
über: des Todes schauerliche Gewißheit verklärt sich endlich im Diesseits. 
Die Tatsache der Mentalitäten des vierzehnten Jahrhunderts — d.h. seit 
Dantes Inferno und der ersten Verkörperung des toten Christus in der Mutter 
Schoß — ermöglicht erst, den wahrhaft heroischen Sinn des dreizehnten Jahr- 
hunderts bis ins letzte zu empfinden, die ungebrochene Kraft und die groß- 
artige Ungerührtheit gegen alles Negative des wirklichen Lebens. Und erst 
von dieser Basis ist die Berührung mit dem Antiken ganz verständlich: als ein 
Gleichklang der Gesinnung, nicht eine ursächliche Folge humanistischer Sen- 
timents, die im dreizehnten keinen Platz haben. 
Die Frage nach der Entstehung des neuen Stils ist heute noch kaum zu 
beantworten. Wann und wo zuerst der geniale Gedanke verwirklicht wurde, 
den filigranfein mit Symbolen der Oberfläche: Glied, Falte, Zierwerk beschrie- 
benen Block, wie ihn die Chartreser Hütten noch durch die ganze erste Gene- 
tation des dreizehnten Jahrhunderts als plastische Grundnorm für die Figur 
auffassen, in die Tiefe hinein zu erschüttern, um so dem Ganzen der Figur 
: eine neue — erste — Standfestigkeit zu geben: den Siegerschritt des „Beau 
Dieu‘‘ in Amiens (Taf. XX) oder der Portalmadonna vom Reims, all das läßt 
sich vorläufig nur ahnen aus der schweren Fülle künstlerischen Geschehens 
innerhalb der Zeit der Jahrhundertwende. Man muß Werke wie das Annen- 
und Marienportal der Notre-Dame zu Paris oder die Reliefs der Monats- 
bilder dortselbst dem gleichzeitigen Tympanon des Jüngsten Gerichts vom 
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