Full text: Die Kunst der Gotik (7)

Südportale zu Chartres gegenüberstellen, um zu sehen, wie eine haarfeine Linie 
zwei Welten scheidet. In Chartres obsiegt das Dichte, gleichsam Lichtlose 
romanischer Geschlossenheit; jede Figur bleibt fest umschriebene Einheit, 
dem Ganzen verbunden durch den Gleichklang einer außerräumlichen Ord- 
nung. An der Marienpforte in Paris lebt jede Figur in bezug auf eine weich- 
schattende Tiefe, durch die Biegung und Neigung der Häupter wogen rhyth- da 
mische Bindungen, die nicht mehr abstrakte Unendlichkeit säulenartig ge- gi 
reihter Körper bedeuten, vielmehr etwas wie Ahnung in sich geschlossener fu 
Räumlichkeit anklingen lassen. Erdenfern erscheint die ornamentale Pracht fä: 
der Chartreser Portalfiguren auch der reifsten Phase — man vergleiche die in 
Gruppe mit dem heiligen Theodor (Abb. 376) — gegenüber dem rauheren hi 
Dasein des Christus vom Hauptportal zu Amiens (Taf. XX). So unzählige Gt 
Fäden des Spätromanischen und Gotischen innerhalb dieser Phase durch- lic 
einanderlaufen: die letzte Geschlossenheit einer hochgezüchteten Stilistik dort H 
in Chartres und das — zunächst fast barock anmutende — Problematische de 
einer von Wirklichkeitsgefühlen gesättigten bildnerischen Energie hier in al 
Amiens, sie entscheiden. Es ist der Menschenschlag der neuen Zeit der Kathe- ni 
dralhütten, der dem exklusiven Geschlecht von Chartres gegenübertritt. Wie di 
zag heben sich die Chartreser Gestalten über den Phantasien ihrer Sockel, hoch er 
hinaufgeschoben an den geschmeidigen Säulen des Gewandes gleich nickenden a 
Blumen (Abb. 376, 377). In Amiens wachsen die Figuren auf ihren Architektur- 
konsolen zugleich mit den hinter ihnen aufsteigenden Säulen; es sind recht ZE 
eigentlich Zeugen und Mitwirkende des Baukörpers, dem sie dienen; in ihrer st 
mimischen Gehaltenheit kaum fremd den Akteuren geistlicher Spiele, die etwa di 
einmal ihr Vorbild gewesen. Ihr Tun verklingt nicht als ferne Litanei wie in g1 
Chartres, Namen nach Namen und Sinnbild nach Sinnbild im ewig gleichen al 
Akkord erklingen machend; die Figuren in Amiens treten zueinander, auch et 
wenn sie noch nicht sprechen; der Engel zu Maria, Maria zu Elisabeth, Maria 
zu dem Hohepriester (Abb. 379). Die Häupter der Könige (Abb. 378) blicken € 
nicht ins Unendliche wie die Gefolgen des heiligen Theodor zu Chartres; das 
Blickziel ist enger geworden, dem Dasein näher gerückt, auch wenn seine 
Grenze noch nicht bestimmbar. 
Noch ein weiteres wird in Amiens Tat. Die neue Wirklichkeit in den Portal- N 
figuren, ihr höherer Grad tektonischer Einordnung gegenüber Chartres erfüllt ‚M 
sich nicht weniger bedeutungsvoll in dem reich ausgeschütteten Reliefwerk. ; 
Die großen Epen der Bogenfelder: Jüngstes Gericht (Abb. 381), Marienleben 5C 
(Abb. 394) und Geschichte des heiligen Firmin geben zum erstenmal dem Pro- Se 
blem einer reliefmäßig durchgebildeten Fläche die große Einheit und klare } 
Gesamthaltung, die das gotische Tympanon nicht mehr als ein Übereinander ü 
herausgestellter Einzelszenen — wie noch in Paris —, sondern als eine wahre ; 
Totalität und Gesamtheit im ganzen Bereich des Portals erkennen läßt. Die 
etwa gleichzeitige Pforte des Jüngsten Gerichts zu Reims (Abb. 383) vermag 
noch nicht den gleichen Grad plastischen Denkens in der Unterdrückung und ) 
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