oder Le Bourget (Dep. Ain) zeigen, erweist sich stärker nach der ornamentalen
Seite als in dem Gebiet der plastischen Grundeinstellung. Auch hier — wie in
der Architektur — kam die neue Form zu unvorbereitet, und einstweilen zeigt
noch nichts, daß der Süden im vierzehnten Jahrhundert bestimmt sein wird,
ein anderes Ideal zu Weltgeltung zu erheben — Avignon und die Malerei.
Im Tympanon des Portals der Vierge doree in Amiens prägt sich ein Relief-
stil aus, der in Werken Nordfrankreichs — z. T. auch Deutschlands — durch
das ganze vierzehnte Jahrhundert besteht: locker gereihte Figuren, tektonisch
geordnet wie der gleichmäßige Rhythmus von Laubbossen im Schatten eines
Kehlgesimses, Nachdruck und Spannung in dem Abstand von Figur zu Figur.
(Im Stephans-Tympanon der Notre-Dame von Paris und verwandten reifen
Schöpfungen liegt das Wesentliche des optischen Eindrucks noch in der strö-
menden Fülle von Masse zu Masse wie in frühgotischen Laubgewinden, nicht
in solch überlegter Abstraktion einer abgeglichenen Folge.) Diesem Kreis
gehört vor allem an das Retable aus Saint-Germer im Cluny-Museum mit den
Passionsszenen, wo die Figuren noch klarer umschlossen als in Amiens und in
den Einzelheiten wie Elfenbein durchgemodelt auf dem herrlichen Schmuck
des gerauteten Grundes stehen; voller Zierlichkeit wie ein Blatt aus dem
Psalter Ludwigs des Heiligen (vgl. S. ı21, Abb. 547). Die Spannungen
zwischen Figur und Grund erwecken eine neue Fühlsamkeit für räumliche
Abstände. Nicht daß die Figur unbedingter Vermittler meßbarer Räume wäre,
© das Neue beruht eher darin, wie die isolierte Einheit der Kathedralstatue auf-
7 hört, erste Bedeutung im Plastischen zu besitzen. Die geschlossene Enge einer
a Reliefgruppe — vgl. Reims, Gerichtstympanon (Abb. 383) — löst sich wie bei
den Aposteln des Türsturzes der Vierge doree zu schönem Intervall. In den
a Holzreliefs der Chorschranken der Pariser Kathedrale um die Mitte des vier-
zehnten Jahrhunderts ist die neue Ordnung der Reliefgruppe vollzogen: die
Erzählung von Szenen aus der Geschichte Christi ist eine Folge streng auf-
gebauter lebender Bilder; alles Spontane im Rhythmus der Massen weicht einer
soliden Ruhe. Dem Ideal der antiken Gewandstatue mit ihrer Pracht fließender
Falten, dem ganz großen Anblick einer überlegenen Posierung, ist das spätere
dreizehnte Jahrhundert in Figuren wie den Aposteln der Sainte-Chapelle, die
im Cluny-Museum stehen (Abb. 400), gelegentlich ganz nahe gekommen. Vom
Gesichtswinkel der Statuen von Amiens oder Reims am Anfange des drei-
N zehnten Jahrhunderts aus gesehen ist dieser um zwei bis drei Generationen
jüngere Stil nicht minder gehoben in seiner gewählten Haltung im Vortrag
als der Raum irgendeiner hochgotischen Kathedrale, aber wie dieser (man
denke an Beauvais, Abb. 232) kaum noch höherer Steigerung fähig. Denn
solch auserlesene Züchtung eines Menschheitsideals hat nicht zufällig das Zeit-
alter Ludwigs IX. kaum überdauert; sie bedeutet nicht den Anfang einer
neuen Kunst, es handelt sich vielmehr um die kosmische Ähnlichkeit einer ganz
anderen Grundströmung, die gleich der Antike sich hier mit dem Urgrund
bildnerischen Gestaltens berührt. In der Tat wird der Weg, zu dem die Figuren
6 Karlinger, Gotik “9
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