der Sainte-Chapelle und verwandte Gebilde führen, weiterhin nicht gegangen — L
weil er dem Mittelalter nicht gangbar war; die Vermählung mit der Welt ist |
innerhalb des Gotischen immer das Werk großer und kurzer Spannen. Wichtig
ist, am Ende des dreizehnten Jahrhunderts auch im Westen — vom Süden 1
wird noch zu berichten sein — solche Bewegung zu erkennen; die Madonna
am Nordportal des Querschiffes der Pariser Kathedrale (um 1300) kommt
von ihr. Und innerhalb der veränderten Situation der Plastik des vierzehnten 1
Jahrhunderts gibt es immer wieder Momente, wo holdeste Erdenschönheit
märchengleich auftaucht: in der Madonna im Chor der Pariser Notre-Dame S
(um 1330; Taf. XXIV) oder in dem Frauenkopf in der bischöflichen Kapelle
zu Laon (Abb. 405). “
Den Vollzug einer Stilwende, der sich in der erwähnten Pfeilermadonna vom
Nordquerschiffportal der Pariser Kathedrale deutlich genug ankündigt, be-
zeichnet die Figur der thronenden Madonna aus der Abtei Coulombs im Louvre
(Abb. 402). Man denkt an Italienisches, so viel von neuerer Lebenswärme liegt
in der kraftvollen Frische dieser Leiber. Der Schritt zur Wirklichkeit ent-
scheidet. Das Kind auf dem Schoße der Mutter ist kein gestaltloses Symbol;
die Mater Dei nicht nur holde Frau wie schließlich auch noch in Amiens,
vielmehr beglückte Mutter. Intimes, das dem heroischen Sinn des dreizehnten
Jahrhunderts fremd blieb. Die Minne der Mystiker erwacht — Wirklichkeit
und Verklärung schlummern in der gleichen Brust.
Die Augen der Bildner sehen heißer, sinnlicher. Die Vierge doree von Amiens
und ihre Schwester von der Pariser Kathedrale wissen von vergehender
Frauenschönheit — und sie triumphieren. Irdisches umhüllt die Frauen des
vierzehnten Jahrhunderts, graziös wandeln sie über die Erde, emporgerichteten
Blicks — die Madonna von Reims schaute nieder. Der steinerne Leib wird
Fleisch, das gnadenvolle Lächeln Schwärmerei oder Versunkenheit. Nicht daß
das Problem des Wirklichen — sei es Akt oder Antlitz — dem Bildner Ziel ß
und Ende wäre (wie sollte solches im Mittelalter), aber das Vergängliche wird
fühlbarer gewußt. Nicht zufällig spannt sich aller Ausdruck in diesen Gesich-
tern, nicht zufällig die notwendigen Fortschritte einer Porträtplastik, die am .
Ende des Jahrhunderts in zahlreichen großartigen Schöpfungen vor Augen
stehen, Vielmehr notwendige Folge innerer Wandlung: die eigenwilligere Be-
tonung der Oberfläche, der reichere Prunk zierhafter Faltengebilde, hinter
denen kein Leib zu finden. Daneben modisches Gewand: hochgegürtete volle
Brüste, Diademe statt Laubkronen, nonnenhafte Zurückhaltung statt welt-
abgerückter Distanz. Die Welt des vierzehnten Jahrhunderts gewinnt an Dies-
seitigem, je schwankender und flüchtiger.die alte Idee vom Jenseits wird. Eine
neue Gleichung: das Heil kommt von der Erde.
Die Peripherie meldet sich. Bis in das vierzehnte Jahrhundert lag für Frank-
reichs Bildnerei der Nachdruck, soweit der Verlauf überschaubar, bei den
Kathedralhütten der Isle-de-France. Nun tritt wieder die Umgebung in ihr
Recht: der Süden, der Nordosten, Burgund. Das Werk des Claus Sluter in
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