das Haupt des königlichen Stifters oder die grandiose Gentilezza der Königin
zum Ausdruck einer Zeit werden ließ, wird die Tat der Realisten, ob es nun
Sluter oder Jan van Eyck, begreiflich. In dieser Generation verbreitet sich die
Gesinnung des frühen fünfzehnten Jahrhunderts.
Es ist ein durchaus Modisches, was diese Kunst bestimmt. Man will nicht
mehr den idealisierten Typ einer verzückten oder verklärten Phantasie, es ;
gilt das hic et nunc. Die Figuren vom großen Saal des Rathauses in Poitiers 7
(1388—1390), dem einstigen Palais des Herzogs von Berry, mit dem ideali-
sierten König und den modischen Damen zeigen das deutlich genug. Das Pro- 5
fane bestimmt, auch wenn die Aufgabe lautet, eine Kathedrale zu schmücken:
die Figuren am Nordturm zu Amiens (um 1375; Abb. 408) mit Karl V., dem
Dauphin, dem Kardinal Lagrange. Welch ein Abstand zwischen den Heiligen
und Aposteln der Westportale und diesem Geschlecht, wo die Herren der Zeit u
mit gleicher Bedeutsamkeit erscheinen wie die Apostel oder die Madonna. Das 4
ist die Stimmung, wie wir sie wieder auf dem Bilde der Rolin-Madonna Jan 1s
van Eycks (Abb. 592) treffen werden. Die künstlerische Form wird zu höchster ;
Bedeutung; die Inhalte dürfen in dieser urbanen Reserve nicht mehr das letzte
besagen; die schöne Linie eines niederfließenden Gewandbausches ist nicht
minder wesentlich als die müde Vornehmheit, die um den Mund Karls V. spielt.
Doch wäre es Irrtum, zunächst an Erschöpfung zu denken. Noch ist es
Naturgesetz einer Mutation, das sich um das Ende des vierzehnten Jahrhun-
derts auch in der Bildnerei vollzieht. Die Wandlung zu einer neuen Phase,
innerhalb der die Maler den Primat der Künste erringen, innerhalb der die
Bildhauer, aus dem Verband der Bauaufgaben befreit, im Denkmal, in der
Figur, d.h. in der besonderen Aktualität einer Zeitgegebenheit, ihren Wir-
kungskreis sehen. Tournai war damals ein Brennpunkt der Stilwende (Abb. 409), ?
es folgt Claus Sluter und seine Generation. ;
Das Portal der Kartause zu Champmol bei Dijon (Abb. 412)! Der dritte und 7
letzte ganz große Moment in der gotischen Plastik des Westens; der Abschluß al
einer großen Welt. In Reims begleitete eine Zeugenschar das symbolische &
Geschehen, zu Seiten der Madonna standen die Träger der Hauptszenen des >
großen Epos des Heils. Im Portal der Vierge doree in Amiens schon war es der
Akt einer großen Huldigung, aber zu Akteuren blieben nur die Personen des
Testaments zugelassen ; nun in Champmol ist die Huldigung zu einer geschicht-
lichen Hofszene geworden: Philipp von Burgund und Margareta von Flandern,
von ihren Patronen der Madonna empfohlen, die selbst — fast im Hofkleide — ©
in diesen erlauchten Kreis niedergestiegen ist. Das Vornehme eines ausgesuchten
Geschmacks in Geste und Haltung; die reichen Gewänder falten sich in ge-
räuschlosem Überfluß, und der bäuerliche Greisenkopf des Apostels Philippus ;
bewegt sich beinahe gezwungen gegenüber seiner Partnerin. Der Rhythmus
zwischen den knienden Stiftern, der mächtig stehenden Madonna (Abb. 411)
und den leicht gebeugten Patronen ist nicht minder kostbar als die Pracht der ;
Stäbe des Portalgewändes, vor dem sich diese Szene abspielt. Neben diesem
PS