Full text: Die Kunst der Gotik (7)

mantelmadonna und wohl auch der Johannesminne — seinem Gedankenkreis 
entsprungen sind, verhältnismäßig unbeteiligt gegenübersteht. Auch da er- 
scheint mit Gesetzmäßigkeit die Verschiedenheit völkischer Lagerung der 
Kräfte: dem Kathedralraum Frankreichs ist die stolze Verschlossenheit der 
Portalfiguren, des heroischen Ahnherrngeschlechtes Christi und der könig- 
lichen Mutter, nicht weniger sinngemäß, als Schmerzensmann und Vesperbild 
im Münster oder der Ordenskirche Deutschlands ihren bevorzugten Platz 
finden. (Italien konzentriert seine Kräfte um ein gänzlich anderes: den episoden- 
haft erzählenden Reliefschmuck an Kanzel oder Portal oder die rhetorische 
Form des Grabdenkmals, sei es einem Heiligen oder Weltmann bestimmt.) 
Die gotische Plastik Deutschlands wird mithin zum entscheidenden 
Problem in dem Augenblick, da die Rezeption der westlichen Kathedrale 
vollzogen ist und die neue Kräftezusammensetzung der Städte in den Vorder- 
grund kultureller Aufgaben — deren Brennpunkt hier wie dort im Kultischen 
beruht — rückt. Das ist das deutsche vierzehnte Jahrhundert. 
Erst von hier aus ist es möglich, die Frage eingehend zu prüfen, seit welchem 
Zeitpunkt von einer gotischen Bildnerei Deutschlands gesprochen werden 
kann. Für die Plastik der Isle-de-France war festzustellen, daß die gotische 
Bildform nicht vor dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts, d. h. gut zwei 
Generationen nach der entscheidenden Erscheinung des architektonischen 
Problems, einsetzte; das gleiche wiederholt sich in Deutschland mit der Vor- 
aussetzung, daß die Stilwende innerhalb der Architektur hier nicht vor der 
Frühzeit des dreizehnten Jahrhunderts eintrat. Die erste Phase gotischer 
Bildnerei in Deutschland umspannt somit die letzte Generation des dreizehnten 
Jahrhunderts; man kann sie etwa mit den Namen Magdeburg, Straßburg 
(West), Freiburg (Vorhalle) und Regensburg umschreiben. 
Die Gegensätze zwischen dem zu höchster Spannung getriebenen plastischen 
Impuls des Spätromanischen, wie ihn Naumburg verkörpert — ein Götter- 
geschlecht siegender und leidender Menschen jenseits alles Zeitlichen —, und 
dem scharf akzentuierten Modeton des Hofes oder der Bühne, der in Straßburg 
(Abb. 419, 424) und Magdeburg (Abb. 418) mit der Folge der klugen und 
törichten Jungfrauen erscheint, sind von ungleich größerer Vehemenz als im 
Westen. Das Herabsteigen zu den betörenden Sinnen, das die süßen Gestalten 
der klugen Mädchen von Magdeburg und der törichten von Straßburg erschafft, 
wird — gemessen an der herben Kraft der Naumburger — als ein sichtbares 
Werk der Frau Welt empfunden, als ein einmaliges, das spontan sich empor- 
ringt wie die Gestalt der Isolde des Meisters Gottfried im Epos; nicht ein Stil, 
den mehr als eine Generation zu halten imstande ist. Schon Freiburg — die 
klugen Jungfrauen der Vorhalle, wenig später die thronenden Fürsten von 
den Strebepfeilern des Turms —: ein Abrücken von solch verbindlicher 
Schöne, ein höheres Maß herber Tatbewußtheit. Nicht der exklusive Hofton 
einer Kathedralhütte wie Paris oder Reims oder Amiens; ein stolzer und 
strenger Wille, der sich enger verpflichtet fühlt dem Volk, aus dem er erwuchs, 
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