Full text: Die Kunst des Klassizismus und der Romantik (14)

wird sie dem Naturalismus angenähert, d. h. einer ästhetischen Auffassung vor 
von der Natur — nicht in ihrer Gesetzmäßigkeit, sondern in ihrer chaotisch ron 
unerschöpflichen Fülle. Durch solche Auffassung geht, wie wir es schon in Sin 
der Gotik wahrnehmen können, für den Germanen der Weg zur Transzendenz. wal 
Nun bleibt aber die deutsche Bildhauerei unseres Zeitraums recht eigentlich Ges 
auf halbem Wege stehen, d. h. bei einem konventionellen Naturalismus. Das Ges 
eigentlich Romantische erschöpft sich im Programm oder beruht in gewissen ein‘ 
Eigenschaften, gelangt aber nur ausnahmsweise zu einer reinen formalen den 
Ausprägung. Darum kann man auch keinen einzigen deutschen Bildhauer Ro 
in demselben Sinne wie so manchen Maler schlechthin einen Romantiker ren 
nennen. Wer so etikettiert wird, wie z. B. Schwanthaler, soll damit vielmehr Zög 
nur einer Künstlerpartei zugewiesen werden. Es 
die 
Ähnlich verhält es sich in Frankreich, wo eine Zeitlang alles romantisch Bal 
hieß, was wider den Stachel der klassizistischen Akademie lökte. Die Roman- ist « 
tik unseres Jahrhunderts ist zudem so rassenmäßig germanisch, daß sie unter d’A 
Franzosen überhaupt nicht im gleichen Sinne aufkommen kann. Mit diesem ein 
Vorbehalt mögen wir indessen wenigstens einen großen französischen Bild- Ar 
hauer als Romantiker ansehen, den größesten seiner Zeit — Fran cois Rude Na 
(1784—1855). Das Romantische an ihm ist sein unbekümmerter Wagemut, ble: 
eine Kühnheit, die, alle Konvention verachtend, den stärksten Ausdruck für sei 
die Gefühlserregung des Schöpfers sucht. Auch hier werden Grenzen gesprengt ein 
und Malerei, Poesie, Rhetorik dem plastischen Ausdruck dienstbar gemacht. sch 
Französisch ist besonders der Zug des Rhetorischen, das sich bis zu lauter Ga] 
Deklamation steigert. Doch ist damit nur eine und nicht die wesentlichste gel: 
Seite des Romantischen bezeichnet. Wie alles echt Französische bleibt diese grit 
Kunst durchaus diesseitig, von jedem Drängen nach Transzendenz entfernt. die 
Wie sie übrigens zu verstehen sei, dafür finden wir in den Briefen Lichtwarks Jun 
einen bemerkenswerten anekdotischen Hinweis*, Emanuel Fremiet, der Schüler dal 
und Neffe Rudes, erzählte, wie sein Oheim in jüngeren Jahren von dem Mathe- an 
matiker Monge erweckt worden sei. Monge habe sich bei einem Besuche in ee 
Rudes Atelier nicht sehr befriedigt gezeigt und schließlich gemeint: „Ihre Ka 
Figuren stehen nicht und gehen nicht und haben gar kein Gewicht. Sie sollten es 
einmal die Natur mit den Augen des Mathematikers ansehen, dann würden ind 
Sie Dinge wahrnehmen, von denen in Ihrer Kunst nichts zu spüren ist.“ — höc 
Die Mathematik als Wegweiser zur Romantik klingt verblüffend. Nun war es War 
allerdings so, daß Rude zu jener Zeit (Monge starb 1818) von romantischen zu 
Anwandlungen noch unberührt auf dem Wege der klassizistischen Akademie ord 
wandelte, auf dem ihn seine Erfolge der Salons von 1809 und 1812 bestärkten. str 
Es dauerte ziemlich lange, bis er sich selber fand — völlig erst mit einigen vier- 1 
zig, als er nach fünfzehnjähriger Tätigkeit in Brüssel 1827 nach Paris zurück- Ra 
gekehrt war. Jetzt war das schulgerecht Akademische des Stils der Kaiserzeit Lic 
* H. Lichtwark, Reisebriefe, 2. Aufl., I, 98. A 
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