Full text: Die Kunst des Klassizismus und der Romantik (14)

Naturmotiv zu verlangen ist, sondern vom Künstler, der wenn er nur das ihm 
Zeug dazu hat, sich mit den Schneidern aller Zeiten abfinden kann. Für die er € 
Begabung Ingres’, der geduldig und überlegen die krause Natur betrachtet, wen 
scheint das Gewand seiner Zeitgenossen ebensoviel Schönheit zu enthalten fern 
wie ihr Antlitz. Sein spitzer Bleistift, der in untadelig reinen Umrissen die und 
Gesichter beschreibt, ergeht sich gern auch in dem Faltengekräusel der Kleider. vor 
Ja bisweilen, wie beim Bildnis der Madame Riviere, weiß man nicht, was Cha: 
man mehr bewundern soll, die Miene, die Haltung oder das wunderbare solc] 
Linienspiel des Gewandes, das doch nirgends zur Kalligraphie wird, d. h. zum weg 
leeren Schnörkel (Abb. 363). liche 
So sehr wir nun den Zeichner Ingres bewundern, so falsch wäre es, zu leugnen, Jah! 
daß er ein Maler ist. Er ist sogar wesentlich Maler, einer, dessen Zeichnung erst es d 
im Gemälde ihr Ziel erreicht und sich vollendet. Freilich ist seine Malerei Den 
nicht der kühne Ausdruck des andeutend schaffenden Pinsels, sondern ein liefe 
edles, fein verschmolzenes Email. Aber auch das ist große Malerei, ähnlich wie hina 
die eines Holbein oder seiner niederländischen Vorgänger. Und auch ein als « 
Kolorist ist Ingres, so wenig man ihm diesen letzten Ruhmestitel gönnen rati 
will — denn sein Kolorit ist eben jenes, das allein und vollkommen seiner der 
Zeichnung gemäß ist. Sein Schwarz ist wie bei van Dyck ein resolutes Schwarz, mon 
und alle Lokalfarben haben bei ihm eine Aufrichtigkeit, die als einfältig er- Orie 
scheinen könnte, wenn sie nicht zu so raffinierten Gesamtwirkungen führte, sein 
die niemals bunt sind, nur oft sehr kühl und immer diskret. Aber freilich M 
bedeutet dieses Kolorit den Gegensatz zu dem, was man im anderen Lager mit 
der Zeitgenossen, bei Delacroix und den Seinen, anfıng als koloristisch an- Fra: 
zusehen. kanı 
Unter der nächsten Gefolgschaft Ingres zeichnet sich Jean Hippolyte Gan 
Flandrin (18009—1864) aus, der als Pferde- und Soldatenmaler begann, um liche 
sich dann durch Ingres’ Beispiel zum Klassischen und dann auch zum Christ- unt« 
lichen zu bekehren; d. h. er umhüllte mit klassizistischer Form Monumental- keit 
malereien der christlichen Legende, mit denen er einige Kirchen von Paris lebe 
schmückte (St. Severin, St. Germain-des-Pres, St. Vincent-de-Paul). Seine viel: 
Qualität in diesen Bildern und auch die Gesinnung, die seine Formen inspi- Cha 
riert, ist dem Wesen unserer Nazarener vergleichbar und bedeutet keine sich 
Mehrung des von Tngres beherrschten Reiches (Abb. 462). Lebendiger und best 
eigener wird er im Bildnis. Wir zeigen eine seiner populärsten Schöpfungen, im 
den Akt eines auf einem Felsen am Meere einsam kauernden Jünglings — dur 
eine eindringliche Komposition, die in mancher sentimentalen N achahmung ihm 
ein Echo gefunden hat. Hier ist Flandrin reiner Klassizist (Abb. 365). pP 
Was dem französischen Klassizismus nach Ingres’ Vorgang noch zu sagen Hol 
übrigblieb, enthüllt uns Chasseriau. Th&odore Chasseriau (1819—1856) Säu. 
war einer jener schnell Gereiften, denen das Schicksal eine ungewöhnliche Hol 
Entwicklung gewährt, weil es ihnen ein frühes Ende verhängt hat. Er geht Ital 
von Ingres aus, zu dem er als Knabe stürmisch begehrte. Und Ingres wies NCU| 
04
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.