Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

S- Erster Teil. 85. 
Rühren fage ich jezt natürlich nicht im Sinne von schmelzenden 
Wirkungen des Mitleids, sondern das heißt hier ganz allgemein: 
die Seele durch Gefühl in ihren Tiefen bewegen. Zunächst ist 
diese Bewegung sinnlich, dann aber wird die Seele zu einer 
bestimmten Art von Lustgefühl erhoben, wie es eben nur durch 
das Schöne, durc< ein ausdru>svolles und formharmonisches 
Bild erregt wird. 
Nun aber, wenn wir also sagen: alles Schöne will tief 
bewegen, rühren, wie steht es dann mit dem nac< Kant im 
ersten Paragraphen aufgestellten Saß: „schön ist, was ohne 
Interesse allgemein und notwendig gefällt.“ Wir haben ja 
früher alles Interesse abgewiesen. Interesse besteht immer darin, 
daß uns nicht bloß der Gegenstand gefällt, sondern daß wir 
auch etwas in Beziehung auf seine Existenz wünschen oder wollen, 
begehren oder verabscheuen. Dies ist absolut auszuschließen. 
Wer stoffartig auffaßt, kann das Schöne als Schönes nicht 
fühlen. Ein solches Interesse haben wir nach Goethe und 
Schiller pathologis< genannt. Ausgeschlossen ist ferner, wie 
wir sahen, das theoretische Interesse, das Nußinteresse, das 
moralisc<he , politisc<e und religiöse Interesse. Wir dürfen 
wenigstens dur< ein derartiges Interesse nicht so gespannt sein, 
daß wir die Freiheit des Gemüts verlieren, daß wir 3. B. 
meinen, es möchte unseren Grundsäßen etwas zu leid geschehen. 
Alle Unruhe de3 Wünschens, daß die Welt so oder so sein sollte, 
ist ausgeschlossen. Gin Mann soll freilich kämpfen, aber das 
Kämpfen ist im Schönen vergessen; es ist vor der Thüre der 
Kunst zu lassen. Wir stehen im Schönen über den Gegensäßen 
des Lebens. Die Welt muß in dieser Sphäre nicht erst gemacht 
werden, sie ist recht. Ausgesc<hlossen ist endlih auc< das wissen- 
jchaftlihe Bedürfnis. Denn wir wollen das Schöne nicht, um 
zu lernen. 
Geraten wir nun aber nicht in Widerspruch mit diesem 
Ausschluß alles und jeden Interesses an der Existenz, wenn 
wir jekt sagen: das Schöne will rühren? Wenn ih zuschauen 
soll ohne Rührung, wo ist dann die Rührung? Wenn ich ge- 
rührt werden will, muß ich doch ein Interesse haben. -- 
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