Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Freie Leidenschaft. Es 
Hausverstand, der nur ein Entweder -- Oder weiß, zurecht 
kommt bei diesen Gegenständen. Da braucht es Sowohl -- 
Als = auh, da muß man sowohl mit der ganzen Seele drin, 
als auc< mit der ganzen Seele frei darüber sein. 
Hippel, der tiefsinnige Vorgänger Jean Pauls, hat gesagt, 
der Verliebte könne die Geliebte und seine Liebe zu ihr so 
wenig beschreiben, als einer, der im Fieber liegt, das Fieber. 
Das ist ganz wahr. 
Bürger hat fur<tbare Leidenschaften erlebt. Seine Ge- 
liebte, die Schwester seiner Braut, sah er zum erstenmal in der 
Stunde der Trauung. Jm Momente seiner Entflammung mußte 
er erkennen, daß es zu spät ist. Nun schrieb er jene Gedichte, 
worin er diese Leidenschaft ausschreit in ihrem ganzen wilden 
Stoß; das ist unpoetisc<h, pathologis<. Der wilde erste Natur- 
stoß der Leidenschaft gehört nicht in die Poesie und in seiner 
Verzerrung überhaupt nicht in die Kunst. Dem Künstler fehlt 
die sichere Zartheit der Linienführung, wenn er in der darzu- 
stellenden Leidenschaft mitten drin sitt. 
Goethe war, als er an Werthers Leiden ging, no< nicht 
fertig mit seiner tiefen Leidenschaft für die wirklihe Charlotte, 
einer Leidenschaft, die doppelt verzehrend zu werden drohte, als 
sie sich mit der Sentimentalität der Zeit amalgamierte. Indem 
er nun anfing, zu schreiben, da fing er an, sich zu kühlen, und 
indem er kühler wurde, konnte er auch schreiben. Von der 
Leidensc<aft heilte er sich dur< Schreiben, indem er sie zum 
Bilde machte. So sc<rieb er sich die Leidenschaft von der 
Seele, jo stellte er sie sich gegenüber. Er wurde dadurch frei, 
unpathologisch, gab so seine Wärme in die Kühle hinaus. Es 
ist außerordentlich, was da allein shon die Formgebung aus- 
macht. Goethe sagte einst vom Vers: er zieht etwas wie 
einen zarten Flor über den Gegenstand, so daß er alles 
mildert und temperiert. Der Gegenstand erscheint dadurch be- 
shwichtigt, wie in einer Landschaft das tiefere Blau des Luft- 
sc<leiers eine eigentümliche Labung bringt. Wenn ein wahrer 
Künstler menschliche Gestalten malt, so bewirkt die Formgebung 
und die leuchtende Klarheit der Farben eine Gelassenheit, welche 
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