Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Jvealizmus und Realismus. Vollkommenheit. 107 
doch die Philosophie gemeinverständlich gemacht hat. Er jagt: 
„das Schöne ist Anschein von Vollkommenheit.“ Nun ist gegen 
ihn Kant aufgetreten in seiner „Kritik der ästhetischen Urteil3- 
kraft“ und hat gesagt: nein, das Schöne läßt sich nicht bestimmen 
oder erläutern durc< den Begriff „vollkommen“, denn um zu er- 
kennen, ob etwas vollkommen ist, muß i<h einen Begriff haben 
von ihm; und das Schöne soll do< ohne begriffsmäßiges Denken 
gefallen. Da hat aber der große Kant doch offenbar nicht 
recht, denn was wir hier unter „vollfommen“ verstehen, ist 
etwas anderes al3 das, was wir in der Wissens<aft darunter 
verstehen. =- Nehmen Sie einmal das Wort „vollkommen“ und 
sehen Sie es an! Etymologisch bedeutet es das, was wir 
ästhetis< wünschen und brauchen: voll Herausgekommenes, etwas, 
dessen innere Lebenskraft ohne Abzug in die Erscheinung heraus- 
gequollen ist, so daß sie ganz da ist, ganz in die Sinne fällt. 
Wo nun der Lebensgehalt ganz heraustritt, da brauchen wir 
ja niht mehr darüber nachzudenken, ob es vollfommen sei, 
weil es die Form sagt. So sind wir zu dem Punkt gelangt, 
wo wir den Ausdru> vollkommen zur Erläuterung des Begriffes 
s<ön vo< annehmen müssen. Zm Schönen, sagte ich, waltet ein 
Denken in Formen, nicht in abstraktem, logism unter- 
sheidendem Begreifen; und hier ist hinzuzusezen: mit diejem 
Denken in Formen denken wir das, was wir in dem Dinge voll- 
kommen, ganz und vollständig auffassen. 
Das können Sie am menschlihen Körper sich klar machen. 
Sein Organismus ist ein Werk der inneren Zweckmäßigkeit. 
Daran haben Sie die Art, wie die Natur zu ihrem Zwece ver- 
fährt. Zwe ist ein Begriff, den ich mir bilde an etwas, 
das werden soll, also ein Gedanke, verbunden mit dem Begriff, 
daß er wirklich werden soll. Der Mens<<, in seinem Handeln, 
sucht naß den Mitteln, um einen Zwed auszuführen. Diese 
werden herbeigeschafft, bearbeitet, und der Zwe> ist erreicht. 
So schafft die Natur ni<t. Da ist Begriff oder Bild dessen, 
was werden soll, Material und Thätigkeit am Material un- 
trennbar beisammen; alles ist eines. 
Eduard v. Hartmann, dem ich durchaus nicht alles ein- 
„
	        
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