Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Kirchenbilder. Aesthetische und religiöse Anschauung. 159 
Schönheit niht. Schönheit sehen ist etwas ganz anderes als 
im tiefen, dunklen Versöhnungsdrang eine Bildgestalt verwechseln 
mit einer Person, die es gibt, die da ist, an die man hinbeten 
kann. Zn dieser Art von Andacht betrachten wir die sixtinische 
Madonna nicht. 
Es ist ein Gewinn für dieses Bild, daß es von seiner ur- 
sprünglichen Stelle, einer Klosterkirche in Piacenza, weggekommen 
ist. Dort würde es wie ehedem als Gößenbild angebetet. An 
seiner Statt befindet sich jezt dort eine sehr mittelmäßige Kopie, 
und sie dient ihrem Zwe vielleicht besser. Es ist zwar eine 
unsaubere Geschichte, wie das Bild herausgebracht wurde (die 
Einleitung zum Dresdener Katalog gibt davon Bericht). Aber 
auf der anderen Seite wird es wohl recht sein und ein Glü>, 
daß dieses Wunderwerk Raphaels in eine Kunsthalle verseßt ist, 
wo gebildete Menschen in der Stimmung der Kunstandacht vor 
ihm sigen. Auch der Protestant und der ärgste Ketzer betrachtet 
es mit höchster Erhebung der Seele. Das kann man ganz 
wohl, ohne irgend zu glauben an die Dogmen von der Gött- 
lichfeit der Mutterschaft Marias, ohne irgend zu glauben, daß 
Christus entsprungen sei gegen das Naturgeseh und daß sie 
dann in den Himmel aufgenommen worden sei. Man hat ihr 
ja dann alle Eigens<haften der alten Göttermutter beigelegt; sie 
ist Zsis, Astarot, Cybele; sie ist die Himmelskönigin, die all- 
gemeine weibliche Weltgottheit. Wir kümmern uns nicht im 
geringsten darum, und die sixtinis<e Madonna freut uns doh, 
sie ist uns, wie gesagt, ein Symbol der reinen Weiblichkeit, die 
im Mutterstande noch jungfräulich bleibt, und der Seligkeiten, 
die ein solches Weib empfindet. Sie hat so eine innere Wahr- 
heit, ganz abgesehen davon, ob es eine solche Existenz gebe; 
das sind absolut zweierlei Sachen. 
Hier sehen Sie also den Unterschied der Kunst von der 
positiven Religion. Zn der Kunst und überhaupt in der ästheti- 
s<en Stimmung befinden wir uns in freier JUusion. Im Hinter- 
grund unseres Bewußtseins ist es ganz klar, daß wir den Gegen- 
stand nicht wie eine Wirklichkeit zu nehmen haben; unser Ge- 
müt bleibt hell und unabhängig von jenem Glauben, das Bild
	        
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