Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

UU Erster Teil. 89. 
bleiben. Es ist ein gewisser Zug in unserer Zeit gegen die 
Religion, und dieser Zug ist verworren, denn da wird nicht 
unterschieden. Versteht man unter Religion die unfrei geglaubte 
Bilderwelt, so wird jeder denkende Mann bei dem Feldzug 
gegen fie mitthun, und wahr ist es, daß wir mit dieser Bilder- 
welt die Menschen, da sie doch dur< die Naturwissenschaften so 
gewedt sind, nicht mehr erziehen können; dagegen sind sie ge- 
rüstet. Versteht man aber unter Religion das tragisch große 
Grundgefühl, das uns erhebt, indem es uns zermalmt: das 
darf den Menschen nicht genommen werden; nein, nein, die 
Religion müssen wir retten und die ihr zu Grunde liegende 
Ehrfurcht, die unserem Geschlechte verloren gehen will! 
Jeht fassen Sie wieder die Philosophie ins Auge, die 
Wissenschaft der Wissenschaften, die sich selbst über ihre Methode, 
ihren Umfang im Können und über die Gründe dieses Könnens 
Rechenschaft gibt. Sie ist die höchste unter den Sphären des 
Idealgebietes. 
Religion, d. h. positive, volksphilosophische Religion, und 
Kunst brauchen Bild. Die reine Wissenschaft hat es dagegen 
zur Aufgabe, sich von allem Bildlichen frei zu halten, ganz 
jcheinlos zu denken, ganz abstrakt, den Gedanken bloß als Ge- 
danken zu fassen, also ganz abgekehrt vom Bild. Unter „D= 
strakt“ stellt man sich häufig vor, was so zu belächeln sei, etwas 
Armes: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ u. j. w. Man 
vergißt aber, daß Mephistopheles dieses gesagt hat. Rein 
abstrakt denken zu können, ist das Größte und Schwerste, was 
der menschliche Geist vermag, denn nur, wenn er alles Bildliche 
und Sinnliche entfernt, vermag er es. Da ist er als reiner 
Geist und in seinem reinen Elemente thätig; da ist er im All- 
gemeinen. Da sucht er das Wesen der Dinge; er sucht, „was 
die Welt im Innersten zusammenhält“. 
Philosophie ist die Wissenschaft des Vebersinnlihen. Wenn 
man jagt „übersinnlich“, da denken die meisten Leute an etwas 
oberhalb der Sinnenwelt, das sie erst noc< rec<t mit hübschen 
Figuren bevölkern. Aber das Uebersinnliche ist bildlos, und 
mit dem bildlos Uebersinnlichen hat es die Philosophie zu thun. 
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